Sonntag, 18. August 2013

Erfahrung

Erfahrung


Um mich wölbt sich blauschwarz leuchtend ein Tunnel. Ich gehe in ihm. Meine Füße laufen durch weiches, kühles Gras. Es ist nicht nass an den Füßen, wie ich auch ganz leicht bin. Scheinbar schwebe ich über das Gras. Ganz langsam gehe ich über dieses Gras und sehe Gänseblümchen und dicke, gelbe Butterblumen erblühen. Ich trete nicht auf die Blüten, sie treten zur Seite. Im Tunnel ist es nicht kalt und auch nicht dunkel. Ganz deutlich erkenne ich das Grün der Wiese, das weiße und rote Farbenspiel in den Blüten der Gänseblümchen und das leuchtende Gelb der Butterblumen. Angenehm kühle Luft umweht mich und bringt den Duft blühender Bäume und Gärten mit. Ich schreite weiter. Umdrehen, rückwärts schauen ist mir nicht möglich, ich will es auch nicht. Vor mir sehe ich das Gewölbe des Tunnels in seinem tiefen Blauschwarz, fast wie ein Sommernachthimmel, nur Sterne fehlen. Ganz am Ende des Tunnels leuchtet hellblau der Himmel und mitten im Tunnelausgang eine große, runde Kugel. Gelbes Licht sendet sie aus, blendet aber nicht. Ich gehe langsam immer weiter auf das Licht zu.
            Mir ist plötzlich so kalt, meine Zähne klappern, ich möchte mich krümmen, es geht nicht. Das Licht ist weg, die Wiese sehe ich nicht mehr. Kühle Hände drücken mich sanft auf eine Unterlage, decken mich zu und sagen irgendetwas leise zu mir. Ich schlafe ein, aber der Tunnel und die Wiese kommen nicht mehr zurück. Es war so schön dort.
            Irgendwann werde ich wieder wach, ich friere nicht mehr so heftig, aber ich kann nicht hoch. Durch eine Wand schwebt ein Engel in einem weißen Kleid und weißen Haaren, nein eine Haube trägt der Engel und goldene Locken hat er auch nicht. „Da bist du ja wieder, nun wird alles gut, habe Geduld.“ Der Engel strich meine Decke glatt, half mir etwas auf und brachte mir lauwarmen Tee. Es war eine Krankenschwester und ich offensichtlich im Krankenhaus. Langsam erinnerte ich mich, es war Pfingsten, ich hatte Fieber und bestimmte träumte ich nur.
            Sie erzählte mir, dass Pfingsten schon vorbei war und ich drei Tage geschlafen hatte.
Aber nun wird wirklich alles gut. Ich wandte mit Mühe den Kopf zum Fenster. Der Himmel war wirklich blau und durch die Blätter einer blühenden Linde leuchtete die Sonne. Angenehmer Duft strömte in das Zimmer, Vögel zwitscherten in den Zweigen und ich schlief wieder ein. Bis zum nächsten Morgen. Zum Aufstehen war ich zu schwach, aber in drei Monaten päppelten mich Ärzte und Schwestern wieder auf. Ich konnte wieder laufen, freute mich an den wechselnden Jahreszeiten. Auf die Dauer wäre der immer gleiche Tunnel doch langweilig geworden.
            Inzwischen sind über fünfunddreißig Jahre vergangen, in dem Tunnel war ich nicht mehr. Dafür erfreue ich mich immer noch an duftenden Blumen, strömenden Regen und watteweichem Schnee. Ich freue mich über meine Familie und unseren Enkel. Der samtdunkle Tunnel hat noch Zeit, wenn ich auch manchmal Sorge habe, dass er zu zeitig auftauchen könnte.
Doch wenn er kommt, dieser Gang durch den Tunnel, brauche ich wohl keine Angst zu haben.
Wer weiß, wer und was uns am Ende des Tunnels erwarten. Vielleicht die, welche schon lange vor uns durch den Tunnel gingen.

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Mittwoch, 14. August 2013

Regen

Regen

Seit Tagen regnet es nun. Dabei habe ich doch frei und eigentlich möchte ich so viel tun.
Nun sitze ich hier in meiner Küche und schaue aus dem Fenster. Der Wind treibt die Tropfen an die Scheiben, unbeirrt laufen sie herunter. Manchmal gerade, dann wieder in schrägen Linien, wenn der Wind es so will. Vor mir steht eine Tasse heißer Tee, nach Sonne duftend, das Buch liegt geschlossen daneben. Ein Lesezeichen ragt vorwitzig aus den Seiten.
Nicht einmal lesen möchte ich, zu lange ist es draußen schon grau und verregnet.
Autos rasen durch die Straße, Gischt spritzt über den Bürgersteig bis an des Nachbarn Zaun.
Leute hasten gebückt mit Schirm und nassen Schuhen heimwärts oder in den Laden, das Nötigste einkaufen. Die Uhr zeigt erst nachmittags um vier an und es ist noch so lang bis zum Abend.
            Zwei Kinder, ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen hüpfen auf dem Gehsteig über Pfützen. Manchmal sind die Pfützen zu groß, sie platschen hinein. Lachend hüpfen sie zur nächsten Pfütze und ich schaue lächelnd zu. Die Gedanken wandern weit zurück, aus den Kindern wird ein Junge, der mit Gummistiefeln durch einen Rinnstein schlurft. Sehr viel Wasser läuft zum Gully, nimmt dabei braune Blätter mit. Über dem Gully sammeln sich kreisend die welken Blätter, gurgelnd verschwindet das Wasser in dem unsichtbaren Loch in der Straße. Mit einem Stock versucht der Junge das Gullygitter sichtbar zu machen, vergebens. Immer neue Blätter kommen und tanzen auf dem Wasser. Er schaut nach oben, der Regen läuft über sein Gesicht, er leckt das Wasser von seinen Lippen. Langsam geht er weiter, er muss heim. Daheim zieht er sich trockene Sachen an, Socken, eine Trainingshose und einen Pullover. Die feuchten Sachen hängt er in der Küche über die Herdreling zum trocknen. Mutti ist noch arbeiten und schimpfen soll sie nicht, weil die nassen Sachen rum liegen. Er ist ja auch schon groß, geht in die dritte Klasse. Auf dem Herd steht die Kanne mit lauwarmen Malzkaffee und im Kasten liegt Brot. Mit einigen Stücken Holz ist aus der Glut im Ofen das Feuer wieder angefacht. Brot schneidet er mit der Maschine, so eine Maschine zum kurbeln, Pflaumenmus steht im Schrank und schon kann das Festmahl losgehen.
Das Brot von beiden Seiten auf der Herdplatte rösten, Mus darauf und warmer Muckefuck mit Milch. Nun sitzt er am Küchentisch, schaut dem Regen zu, wie er an den Scheiben runter rinnt und kaut zufrieden sein Brot.
            Nach einer Weile steht er auf, räumt sein Geschirr weg, nimmt sich seinen Regenumhang und schlüpft in die Gummistiefel. Mit dem kleinen Korb geht er raus. Die Kaninchen sitzen mümmelnd in ihren Boxen, sie schauen dem Regen zu. Ständig schnüffeln ihre kleinen Nasen. Sein Lieblingskaninchen Mohrle passt auf die Jungen auf. Er darf vorsichtig in das Nest schauen. Langsam bekommen die sieben Jungen Hasen Fell, zwei davon so schwarz wie die Mama. Er deckt vorsichtig wieder Heu über die Babys, gibt allen Kaninchen etwas zum futtern und schaut dann noch nach den Hühnern. Die sind wasserscheu, sitzen alle leise gackernd auf der Stange und schauen ihn mit schiefen Köpfen an. Nicht einmal mit den goldenen Körnern kann er sie von der Stange locken. Aber streicheln lassen sie sich, glatt und trocken fassen sich ihre Federn an. Er nimmt seinen Korb und sammelt im Holzschuppen einige Scheite ein. Bis dicht unter den Henkel füllt er ihn und muss ihn nun mit beiden Händen vor dem Bauch tragen. Das Holz kommt in den Kohlenkasten unter dem Küchenherd, der Korb wieder vor die Tür und dann sitzt er im Dämmerlicht des Regentages am Küchentisch. Vor sich das Lesebuch, er soll ein Gedicht lernen. Vom Herbst, der die Blätter anmalt. Er mag aber keine Gedichte lernen und außerdem kennt er es als Lied. Mutti und Oma sangen es ihm vor. So schaut er wieder dem Regen zu, lauscht dem Prasseln des Feuers im Küchenherd und dem Trommeln des Regens an den Scheiben.
            Irgendwann streichelt es ihn über den Kopf, er war eingeschlafen. Mutti war zurück gekommen und mit ihr der Duft nach Regen und Kühle. Gemeinsam bereiteten sie das Abendessen vor, Kakao und Käsebrote. Das Licht brannte schon in der Küche und das Radio spielte leise. Im Wetterbericht erzählten sie von weiterem Regen, auch noch in den nächsten Tagen. Mutti seufzte wegen der schlechten Aussichten, der kleine Junge freute sich und erzählte von seinen Abenteuern mitten im reißenden Strom am Straßenrand, den vielen Blätterschiffen und ihrem Versuch dem Gully zu entkommen. Morgen würde er wieder das rauschende Wasser beobachten. Vielleicht kamen auch einmal andere Blätter vorbei oder auf den Laubschiffchen schwammen Käfer mit.
            Nach dem Essen musste er noch die Hausaufgaben zeigen, das Liedgedicht konnte er auch aufsagen und dann ging es ins Bett. Mit überwirbelten Fenster schlief er ein, der Regen rauschte ihn in den Schlaf.
            Ich schreckte hoch, das Telefon klingelte. Eine Einladung zum Spaziergang.
Warum nicht, vielleicht geht doch noch etwas Kind in unserem Alter. Zweifelnd schaute ich an mir runter, über Pfützen springen geht nicht, aber mit Gummistiefeln durch Regenbäche schlurfen. Stiefel an und ausprobiert, es war noch etwas Kind in mir.