Freitag, 30. November 2012


Sehnsucht

© Frank Handrek


Nebel ziehen leise,
Im Kamin knistern die Scheite.
Mit geschlossenen Augen der Stille lauschen,
vom vergangenen Sommer träumen.

Er versprach:
Mit den ersten Nebeln komme ich
Komme zu dir,
an den lodernden Kamin.

Mit geschlossenen Augen lauscht sie der Stille,
ganz weit entfernt noch hört sie ein leises Brausen.
Sie horcht gebannt auf das leise Geräusch,
das Versprechen geht in Erfüllung?

Lauter braust es,
das Feuer im Kamin duckt sich,
knisternd tanzen Funken über dem Holz,
es riecht so sehr nach Sonne.

Kühle weckt sie auf,
das Kaminfeuer fast erloschen.
Fröstelnd zieht sie die Decke um die Schultern,
schaut aus dem Fenster.

Er ist gekommen,
leise deckt er mit weißer Watte die Bäume zu.
Die Nebel sind vergangen,
Schneeflocken tanzen durch das Licht der Straßenlaternen.


November 24.2012










Mittwoch, 27. Juni 2012

Neues aus der Anstalt- eine nicht so ernst zunehmende Geschichte einer Rehabilitation







Neues aus der Anstalt

© Frank Handrek


-1-


Liebe Leserin, lieber Leser, in dieser Geschichte werden keine Geisteskranken oder Irren vorkommen. Sehr wohl aber einige schräge Zeitgenossen und noch mehr liebenswerte Menschen. Diese Anstalt gibt es wirklich, wenn sie heute auch Rehaklinik Utersum heißt, aber Anstalt ist lustiger, zu mindestens für uns zeitweilige Bewohner.
            So fuhr ich dann Ende April dieses Jahres an das Meer, welches mal da ist und dann wohl ganz weit im Westen an die Küste der neuen Welt schwappt. Nein, nicht an den Atlantik, nur an die Nordsee, die grüne Insel Föhr. In Berlin musste ich aus meinem Zug, der fuhr weiter an die Ostsee. Eine Stunde warten, Blick zum Reichstag, zum Kanzleramt und zum Abgeordnetenhaus. Alles graue Wände, blanker Beton und Glas, kein bischen Farbe.
            Pünktlich ging es weiter, Platz gefunden, hingesetzt und schon tönt es: „Die Fahrscheine bitte!“ Was sein muss, muss sein. Ein englisch sprechendes Paar hört Musik, jeder Seine. Er schien einige Jahre jünger zu sein als sie. Ein älterer Herr, kurz vor oder über sechzig arbeitete mit seinem Laptop. Was es so alles jetzt gibt im Zug? Sonst fahre ich immer im PKW.
            In Wittenberge an der Elbe das alte Gebäude von Veritas, sehr marode und traurig. Kannte es noch aus besseren Tagen, damals als sie hier noch Nähmaschinen bauten.
Doch dann der Bahnhof, alter preußischer Charme, kaum verändert aber trotzdem nicht mehr in der Erinnerung. Früher musste ich ja öfter von hier fahren, das letzte Mal allerdings 1977.
            Fahrgäste steigen aus, andere ein. „Hallo und guten Tag.“
„Guten Tag.“
„Entschuldigen Sie bitte, aber Sie sitzen auf meinem Platz 106.“
„Ja, ich habe Platz 106 im Wagen 15.“
„Oh, dann bin ich wohl im falschen Wagen. Stört es Sie, wenn ich trotzdem bleibe?“
            Natürlich störte es nicht, immerhin war genügend Platz hier. Sie wollte auch nach Föhr, auch in die Anstalt. Schnell wurden wir bekannt, die restliche Fahrt verging trotz langsamer Fahrt hinter Hamburg recht flott. Merkwürdige Wiesen zogen vorbei, gewölbte Teilstücke, Wassergräben trennten sie und sorgten für einigermaßen trockene Flächen. Schafe weideten zu Hunderten, vereinzelt auch Rinder. Einzelne Gehöfte in der Landschaft, selten große Dörfer. In Niebüll wurden unsere Wagen abgehängt, der Rest des Zuges fuhr über den Hindenburgdamm nach Sylt. Wir kamen mit unseren Wagen an den Zug nach Dagebüll Mole. Nur noch einige Kilometer gemütliche Eisenbahnfahrt durch nordfriesisches Land und da war sie schon, die Nordsee. Zu unserer Begrüßung war sie sogar persönlich anwesend. Nun zeigte sich, dass wir einige Leute mehr waren. Die Fähre lag breit vor uns, ihr Bauch offen und die Autos standen schon auf dem Unterdeck. Die Fahrkarte mussten wir einem Fährmann zeigen, dann mit dem Handgepäck einen Platz auf dem Sonnendeck gesucht und los ging es. Von nun an gab es kein zurück. Am Wyker Hafen wartete ein Fahrer der Anstalt mit einem Bus. Das Gepäck verladen und schon ging es weiter. Zwölf Kilometer bis zur Anstalt. Am Empfang holten uns die Schwestern ab, brachten uns auf die Zimmer, in welchem Hotel gibt es dies noch? Die Koffer standen schon in den Zimmern, es klappte also alles bisher sehr gut.
Etwas umsehen, einen Kaffee trinken und dann gab es endlich Abendessen. Wir Neuen bekamen einen „Quarantänetisch.“ Ich hatte ja auf etwas Warmes gehofft. Leider nichts zu machen, so wurde es eben ein reiner Brottag. Doch es gibt Schlimmeres und dies kam auch bald. Noch nicht an diesem Abend, aber am nächsten Tag.
            Wer in die Anstalt will, muss ja erst einmal den Gesundheitscheck überstehen. War sehr ausführlich, aber jeder bestand ihn. Anschließend, kurz vor dem Mittagessen, Führung durch die Klinik von einem reizenden Wesen in Schwesterntracht. Wir sollten uns schließlich nicht dauernd verlaufen, kam aber trotzdem in den ersten drei Tagen noch vor.
            Doch dann das erste Kontrastprogramm. Blondie trat auf, nicht etwa diese Sängerin oder eine andere nette blonde Elfe. Blondie war eine ältere Dame, sehr schlank schwebte sie in einem schwarzen Kleid auf Plateauschuhen an meinen Tisch. Das Gesicht äußerst blass, die Lippen grellrot nachgezeichnet, so erschien der verkniffene Mund nicht ganz so verkniffen.
Ich schätze sie auf Anfang bis Mitte sechzig. Sie bat sich setzen zu dürfen und kaum saß sie, ging auch schon ihre Rede los: „Also diese Diätassistentinnen und der Koch sind unfähig. Ich schrieb ihnen extra, was ich essen darf und sie besorgen es mir nicht. Aber bei diesem Chefarzt auch kein Wunder, er gefällt mir auch nicht.“
Sie schien sehr unzufrieden zu sein, immer vom Leben enttäuscht und Freude war wohl nicht ihre schönste Erfahrung. Aus ihrer weiteren Rede entnahm ich, dass sie nicht nur hier so sein konnte, offensichtlich auch daheim. Später erfuhr ich dann, dass sie wohl doch mit schweren Enttäuschungen in ihrem Leben nicht klarkam. Doch hatten wir nicht alle schon Schweres erlebt? Zum Glück lernte ich inzwischen, Vergangenes ruhen zu lassen.
            Nur gut, ich lernte sehr viel nettere Menschen kennen und da waren das Dorle aus Schwaben, die Katja aus Niedersachsen, Angelina aus Berlin und natürlich Cora aus Thüringen. Eben diese Cora aus dem Zug ab Wittenberge. Blondie verzog sich an einen anderen Tisch, wir liehen uns am zweiten Tag Räder aus und begannen an manchen Tagen die Insel zu erkunden.



-2-

Blondie hatte sich inzwischen an einen anderen Tisch verzogen, war kein Thema zum Ärgern mehr. Ihr täglicher Schaulauf amüsierte allerdings und ein wenig tat sie mir leid. Sie konnte nicht zu ihrem Alter stehen. Ihre gesamte Erscheinung wollte ausdrücken, ich bin noch nicht so alt, wie ich ausschaue und bitte habt mich lieb. Was mag in dieser Frau vorgegangen sein, sie lässt mich in Gedanken nicht los und zwingt wohl immer wieder einmal zum Nachdenken.
            Statt Blondie kam eine andere blonde Glucke, welche eifersüchtig auf ihre kleine Schar aufpasste und so verhinderte, dass unsere Gruppe gemeinsam sitzen konnte. Sie reisten zum Glück am nächsten Dienstag ab, wir hatten damit doch noch unsere Chance. Es ist schon erstaunlich, wie Menschen sich verhalten können. Immer schön reserviert, niemand darf in die Gruppe eindringen. Wir sind doch noch nicht so weit von den Horden und Sippen entfernt, irgendwo in uns schlummert nicht nur Huckleberry Finn, sondern auch der Neandertaler.
            Aber ich wollte ja von den Inselexkursionen erzählen und nicht von den Leuten. Wir hatten unsere Räder, beste Hollandräder sowie eine Inselkarte, so ausgerüstet ging es nach Nieblum. Hinzu auf der Traumstraße, herrliche Häuser, wenig Verkehr und mit Rückenwind ging es zügig bis zur Windmühle Borgsum- West. Natürlich musste ich sie fotografieren, aber was war das? Dorle, Angelina und Cora waren weg, nicht zu sehen. Wo steckten sie wohl. Zum Glück warteten sie um die Ecke hintern Häusern windgeschützt. Weiter ging es auf einer Nebenstraße. Der Friesendom grüßte hinter Bäumen mit seinem hohen Turm. Aber er musste noch etwas warten. Zunächst ging es zum „Alten friesischen Teehaus“, anschauen, umsehen, riechen und staunen. Niedrige Stuben beherbergen unzählige Teesorten, Kaffees aus aller Herren Länder, Seifen, Teezubehör und allerlei Schnickschnack. Schnickschnack, den niemand wirklich notwendig benötigt, der aber Freude bringt und die Seele wärmt. Für die wohlige Wärme sorgte ein Bullerjan in der Ecke einer Stube. Türen führten in einen Garten, aber wir wollten Leute gucken. So suchten wir uns einen Tee aus, lernten dabei Peter kennen, brühten den Tee mit Wasser aus dem Samowar auf und setzten uns an die Straße. Rustikale Möbel, eiserne Stühle, aus Baumstämmen gesägte Hocker und Tische boten bequemen Aufenthalt. Diese eine Tasse Tee bekommt dort jeder Gast kostenlos, wie wir fanden ein sehr netter Service des Hauses.
            Auf der anderen Seite der alten Kopfsteinpflasterstraße plötzlich großes Gekreische, Zetern und Schackern. Keine Angst, es war nicht Blondie, zwei Dohlenpärchen stritten sich um die Nisthöhle in einer alten Linde oder ging es um die Dohlenfrau? Schwupps, war eine Dohle in der Höhle, die andere vertrieb die Störenfriede. Doch noch gaben die neidischen Nachbarn nicht auf. Es bedurfte schon noch einiger energischer Flügelschläge, kräftiger Schnabelhiebe und lautstarkem Gezeter. Dann war der Friede hergestellt, es kehrte Ruhe bei den Dohlen ein und sicher war das eine Hähnchen für sein Hühnchen deeer! Held.
            Wir tranken in Ruhe unseren Tee, köstlich solch ein frischer Trank. Noch schnell etwas Tee erworben, damit hatte für mich das „Elend“ mit dem Anstaltstee ein Ende und weiter ging es zum Friesendom. Eine eher schlichte Kirche, sowohl außen als auch innen. Hoher Turm und weites Kirchenschiff, Gestühl für die Wohlhabenden, Bänke für die einfachen Leute, geschnitzte Kanzel und rechter Hand Richtung Altar ein Seitenschiff. In diesem schwebte in einem Meer aus Licht ein Segelschiff. Eine Nische für die Seefahrer, die Walfänger?
            Auf dem Kirchhof ruhen sie alle aus, sind im Tode gleich und doch unterschiedlich. Die Grabsteine erzählen davon. Wer lebte wie lange, mit wem waren die Verstorbenen verheiratet, was war ihr Beruf und wie lang weilte dieser Mensch hier auf der Erde. Nicht wie heute von – bis, nein er lebte 80 Jahr, 4 Monate und 17 Tage. Auf der Rückseite der Grabsteine, im Kopfteil sieht der Besucher Blumen. Tulpen für die Männer und Jungen, Margeriten für die Frauen und Mädchen. Zwei Blüten für die Eheleute ganz oben, links der Mann und rechts die Frau. Darunter die Blüten für die Kinder. Geknickte Blüten erzählen vom Leid der Eltern beim Tod eines Kindes. Nachdenklich betrachteten wir diese Steine. Viele Menschen wurden recht alt, einige starben jung und etliche völlig unnötig. Da sind dann die Gedenksteine für die Söhne. Nicht in einem Sturm beim Fischen starben sie, nein, voller Stolz wird erzählt, auf dem Feld der Ehre fiel unser tapferer Sohn als Held. Für wessen Ehre starben sie? Viele, zu viele folgten nur eine Generation später nach, sie hatten keine solchen Steine mehr.Diese Steine erzählen aber nichts über die Tränen der Mütter, der Frauen und der Kinder. Da schweigen sie sich aus.
            Wir verließen diesen Ort der Ruhe und des Gedenkens, kehrten in das Leben zurück und in ein Café ein. Bei Waffeln und Kaffee lernten wir uns besser kennen, erzählten etwas von uns. Dorle wollte einen weiteren Weg zur Anstalt erkunden, wir anderen fuhren gegen den Wind der Anstalt entgegen, immer am Meer entlang. Am Gotingkliff hielten wir noch einmal an. Das Nordmeer gab sich gerade die Ehre und schlug mit sanften Wellen an den Strand. Mir kam das alte Lied in den Sinn. „Wo die Nordseewellen trekken an den Strand …“
Nur gelber Ginster blühte noch nicht. Doch etwas beeindruckte uns, ein altes Paar. Sie ging in der sanften Dünung spazieren, bis zum Po reichte ihr das kalte Wasser. Er machte nackt seine Yogaübungen. Völlig ruhig, ganz gleichmäßig bewegte er sich. Mit durchgedrückten Knien berührten seine Handflächen den Sand des Strandes, doppelt geerdet. Diese Zwei waren zufrieden mit sich und vielleicht liegt darin das Geheimnis vom hohen Alter der Einheimischen auf dem Kirchhof und der Insel.


-3-


Katja hatte nun auch ein Rad. Nach Sylt ging es nicht aus technischen Gründen, wir waren etwas enttäuscht, doch wenn nicht Sylt, dann eben nach Wyk. Natürlich nicht mit dem Bus, wir hatten ja Räder. Sonntag nach dem Frühstück ging es los. Wie meistens beim Radfahren natürlich gegen den Wind, der auch noch immer heftiger wurde. Doch nach über zwei harten Stunden waren wir angekommen. Durch Felder, übern Deich und an einem Naturlehrpfad entlang ging es in den Ort. Viele Menschen hatten wohl die gleiche Idee, Geschäfte und Gasthäuser waren voll. Ende April liefen alle Menschen mit warmen Jacken, Mützen und Schals. Unglaublich dieser kalte Ostwind, er schaffte sogar das Wasser für die Fähren weg. Nichts ging mehr, wir waren Gefangene auf der Insel, zu mindestens für einige Stunden.
            Fisch gab es jedoch, das Gasthaus „Bi de Pump“ hatte genügend für unsere hungrigen Mägen eingelagert. Ein sehr gemütliches Haus, nette Wirtsleute und vor allem eine hervorragende Küche. Wie immer, wenn das Angebot groß ist, fiel die Auswahl schwer. Was isst man nun? Scholle, Hering, Fischplatte oder doch lieber Landkost, Roulade mit Rotkohl und Klößen? Schwein kann ich daheim essen, Rind auch, also Fisch. Wäre ja auch Schwachsinn, hier hatte der Fisch sogar noch leuchtende Augen, wenn er in die Pfanne kommt, so frisch war er. Erstmals sah ich auch, was mein ehemaliger friesischer Chef meinte mit „Butter bei die Fische tun“. Also mit Diät hat dieser Brauch echt nichts zu tun.
Übrigens kann ich auch die Hühnersuppe dort empfehlen, das Huhn wurde nicht nur durch das heiße Wasser gezogen. Fleisch, Fett und Gemüse waren reichlich in der heißen Suppe.
            Der anschließende Gang über den „Fischmarkt“ zeigte eigentlich eine Irreführung des gemeinen Urlaubervolkes. Wenn wir auch in der Anstalt waren, so konnten wir doch Fisch vom Käse unterscheiden. Vielleicht wäre Sonntagsmarkt treffender? Bei dem immer heftigeren Wind hatten wir echt keine Lust mehr am Strand sandgestrahlt zu werden. Wir holten unsere Räder und fuhren, diesmal mit Rückenwind, zurück in die Anstalt. In Nieblum noch kurz vom rechten Weg abgebogen und Katja das „Alte friesische Teehaus“ gezeigt. Die Dohlen waren ruhig, sicher hatten sie die Streitigkeiten beigelegt.
            Katja kam mit einem undurchsichtigen Gesichtsausdruck aus dem Haus. „Wenn man sucht, wird man auch finden.“ Es ist eben ein Kramladen, für Jeden etwas und in dem scheinbaren Chaos steckt ein liebevolles System. Nach einer weiteren guten Stunde Fahrt kamen die Dächer der Anstalt über den Wipfeln der Kiefern in Sicht. Das Ende eines anstrengenden Ausfluges nahte, doch nicht das Ende des Tages. Nach dem Abendessen ging es zum Schwusical. Hat nichts mit Schwulen und Lesben zu tun, es ist einfach eine Wortschöpfung aus Schauspiel und Musical.
            Wir lachten, wie es viel zu selten geschieht, der Saal bebte. Die Geschichte spielte auf dem Hamburger Fischmarkt. Der arme Obdachlose mit seiner obdachlosen Freundin, eine Dame der „besseren Gesellschaft“ mokierte sich über das merkwürdige Paar. Sie rief den Schutzmann, diesen „Abschaum“ der Gesellschaft vom Markt zu entfernen, nichts ahnend, dass sie den Schutzmann viel eher und öfter benötigen wird, als ihr im Moment noch lieb war.
Raffgier, Arroganz und geringe Menschenkenntnis brachten ihr erheblichen Verlust. Die Marktweiber kreischten und keiften sich an, der typische Marktaufseher suchte seinen Vorteil mit versteckten Drohungen und Erpressungen. Zwei alte, unzufriedene Damen mäkelten an der Frische des Fisches. Früher war eben alles besser. Und dann die Touris aus Gelsenkirchen, natürlich im Schalketrikot der Papa. Papa scharf auf die Mädels vom horizontalen Gewerbe, Mama bedacht auf die Treue des Ehemannes und Sohn Amadeus sollte nach dem Willen von Mama und Papa endlich ein Mann werden. Also er sollte erfahren, was Frau und Mann so tun müssen, außer reden, damit in Zukunft auch noch Schauspieler und Zuschauer zueinanderfinden. Papa landete natürlich nicht bei den Schwalben, mal rief Mama, mal war das Portemonnaie weg, dann klingelt das Handy.
Ob es wohl eine Studie darüber gibt, wie hoch der Anteil der Handys am Bevölkerungsrückgang in diesem Land ist?
Amadeus fand jedenfalls sein Mädchen, völlig anders als von seinen Eltern gedacht. Er war der Einzige, welcher die Ertrinkende aus der Elbe rettete. Der Depp und der Penner waren die menschlichsten Wesen an diesem Abend. Der Pfaff redete nur, die anderen Leute sahen weg, nur nicht einmischen, es könnte ja Ärger geben. Trotzdem waren am Ende des Stückes alle irgendwie etwas menschlicher und alles wurde gut.
            Ein schöner Tag ging zu Ende, der Wind schlief ein, der Fasan mit seiner rostigen Stimme rief seine Hühnchen zur Nacht. So gingen wir mit einem Lächeln ebenfalls schlafen, nicht ahnend, was die neue Woche bringen mochte.


-4-


Montag, Chefvisite, alles hofft natürlich auf gute Befunde. Manche hoffen auf Verlängerung der Reha. Für uns beginnt nun das richtige Rehaleben, die Tage der Eingewöhnung sind vorbei. Vor der Visite noch einige Untersuchungen in den Funktionslaboren, Frühstück und eine gewisse Unruhe unter den Rehabilitanden. Das geordnete Chaos eines Ameisenhaufens eben. Vor dem Arztzimmer eine Wartegemeinschaft, irgendetwas klappte nicht. Vielleicht war ja jemand doch etwas schlimmer krank als wir, also Geduld und Zeit hatten wir genügend. Doch kein schlimmer Fall, Blondie hielt den Doktor auf und zeternd kam sie aus dem Zimmer, wie schon in den letzten Tagen unzufrieden. Ob sie sich noch beruhigen würde?
Jeder bekam seine Diagnose, mal etwas besser, mal etwas weniger gut. Zum Glück hatten wir uns in kleinen Gruppen gefunden, es half vielleicht manchem über die ersten Stunden hinweg, etwas Trost brachte schon das Dabeiseindürfen in einer Gruppe.
            Der Montag verging mit Sport, zwei Vorträgen des Chefarztes nach dem Mittagessen und einer netten Radfahrt am Deich entlang nach Dunsum. Auf dem Deich weideten Schafe in abgezäunten Bereichen. Sie traten das Bauwerk ständig fest, bekamen nichts als das Gras und ständig frische Luft für diese Deichpflege. Nicht einen Euro verdienten diese Schafe. Doch selbst schuld, sollen sie eine Personalrat gründen, ihre Rechte einfordern. Für religiöse Menschen ist das Lamm ja das Opfertier schlechthin, für mich das Sinnbild unserer Gesellschaft. Duldsam warten wir, ab was geschieht, lassen uns in Grenzen zwängen und harren aus. Wir sind die Schafe für die da oben und wenn nötig geben wir auch noch unser warmes Fell, damit die da oben weich fallen. Zwar stehen wir dann nackt im Regen, aber es wird schon wieder besser werden. Schon komisch, welche Gedanken einem so kommen können, wenn wir uns einmal die Zeit zum Nachdenken nehmen.
            Endlich am „Wattenläufer“ angekommen, die letzte Gaststätte vor Amrum. Kein Kunststück, hinterm Deich geht der Wattweg von Föhr nach Amrum. Der Kaffee war echt gut, doch der Preis zweier Pötte überstieg den Preis eines Pfundes selbst bei Edeka. Aber die Menschen müssen hier eben im Frühling, Sommer und zu Beginn des Herbstes ihr Geld verdienen. Im Winter kommt kaum ein Wanderer vorbei und ins Watt geht es schon gar nicht.
Im moderaten Tempo fuhr unsere kleine Gruppe zurück zur Anstalt. Den Schafen auf dem Deich waren wir in diesen Tagen nicht unähnlich. Unser Tag wurde von den Essenszeiten und den Behandlungen strukturiert. Dazwischen Streicheleinheiten, manche durch Therapeuten im wahrsten Sinne des Wortes, andere Streicheleinheiten mehr für die Seele. Das mit der Seele ist wohl immer wichtig, egal ob jemand gesund oder krank ist. Für uns war es wohl sehr wichtig. Einige gingen zum Tanz, eigentlich Gymnastik nach Noten und zwölf von uns lernten heute Frau Dr. Fuchs kennen. Ich verwende dies eine Mal bewusst den richtigen Namen. Sie gab uns das Gefühl etwas Wichtiges zu tun, sie lud zur Schreibwerkstatt ein. Jeder bekam ein Notizbuch DIN A 4, jeder bekam auch einige Blätter einer Hundsrose und die eigentliche Aufgabe bestand darin, in fünf Minuten seine Gedanken zu eben diesem Blatt und dem kleinen Wort „GRÜN“ aufzuschreiben. So stand auf einem leeren Blatt nur das Wort grün, die Finger tasten über die Rosenblätter, fühlten die weiche und doch irgendwie robuste Struktur der Blätter. Gedanken kreisten, ordneten sich zu Sätzen und auf das Kommando von Frau Fuchs schrieben zwölf Menschen ihr Gedanken zu dem Wort grün auf. Wie zu längst vergangener Zeit in der Schule neigten sich ergraute Köpfe über die leere Seite in dem Buch und in der Stille hörte man nur das Geräusch der Kugelschreiber auf dem Papier. Die Stifte setzten Zeichen, verbanden sie zu Worten, Worte wurden zu Sätzen. Fünf Minuten können eine Ewigkeit sein, aber auch eine sehr kurze Zeit. Hier waren die fünf Minuten sehr kurz. Die „alten Hasen“ lasen zuerst ihre Gedanken vor, dann trauten wir „Neuen“ uns auch. Erstaunlich, wie viele unterschiedliche Formen des Ausdrucks in solch einer kleinen Runde herrschten. Die Vielfalt der Gedanken, der Gefühle und der Vortragsart ließen Talente erahnen, gaben uns Kraft. Eines wurde wohl allen klar, wir müssen diese Kraft der schöpferischen Kreativität mit nehmen in unseren Alltag. Auch wenn es nur uns hilft, am Leben zu bleiben, Kraft zu finden oder dieses Gestalten mit Worten als Ventil für unseren Schmerz, die manchmal quälenden Gedanken und natürlich für unsere FREUDE am Leben zu nutzen.
            Doch die Stunde war noch nicht am Ende, wir lernten Haikus kennen, kleine Dreizeiler, ungereimt doch nach strenger Regel. Erste Zeile fünf Silben, zweite Zeile sieben Silben, dritte Zeile wieder fünf. Das Ganze im Hier und heute, auf mich bezogen, Reflexion meiner Gedanken im minimalistischem Stil. Da saßen wir in „Ehren ergrauten Menschen“ zum Teil noch mit den Regeln der alten Rechtschreibung belastet und trennten Silben. Manche nennen es Silbenklatschen. Wegstreichen, in die nächste Zeile nehmen und solange fummeln, bis es passt. Wir quälten die deutsche Sprache wider jede Vernunft, aber am Ende kamen sinnvolle Dreizeiler dabei heraus.
            Natürlich bekamen wir wieder ein Beispiel vorgelesen, ich zitiere es einmal hier:
„Die Hagebutte
 Dort am raubereiften Zweig
 Träumt vom Rose sein“

Es kommt dann so etwas raus dabei: „Die Fahrt zum Deich raus
                                                            Dort stehen zwanzig Schafe
                                                            Ich wollte frei sein“

Und am Ende bekamen wir ein Haiku einer ehemaligen Patientin der Rehaklinik vorgelesen:
„Skrupellos will ich
  Von nun an mich selbst lieben
  Verwegenes Ich“

Sicher sind dies keine Meisterwerke geworden, doch sie drückten unsere Gedanken aus, es waren von uns geschaffene Geschöpfe und diese Stunde gab uns etwas Kraft für die Woche.
Morgen ist Feiertag, die Woche wird angefüllt sein mit Behandlungen aber auch Freizeit.
Nun mussten aber unsere Körper und der Geist erst einmal ruhen, auch dies ist Therapie.



-5-

Am Feiertag, dem Tag der Arbeit, sollten wir nun wirklich nicht faulenzen. So mussten wir alle zu irgendeiner Anwendung. Nichts sehr Aufregendes, doch die Kette der Behandlungen durfte nicht unterbrochen werden. Trotzdem verbrachten wir den Tag mit einer an Faulheit grenzenden Trägheit. Einfach mal toll, so in der Sonne sitzen, den Gedanken nachhängend und durch den Park schlendern. Nach dem Essen wieder auf der Terrasse sitzen, wir genossen einfach den Sonnenschein und die relative Windstille. Der Himmel blaute wie selten, keine Wolke. Nur Licht, seidenweiche Luft und Wärme.
            Eine junge Frau, wir kannten sie alle vom Sehen, setzte sich zu uns. Bei ihr kamen uns unsere Beschwerden sehr klein vor. Auch wenn sie eher zerbrechlich wirkte, so ist sie doch eine Riesin. Ihr Mut und ihr Wille zum Leben mussten uns einfach berühren und vor allem anspornen. Mitleid brauchte sie nicht, wollte sie auch nicht, aber Anerkennung verdiente sie tausendfach. Glücklich, mit einem Strahlen in den Augen, erzählte sie von ihrem vier Kilometer langen Marsch. Für uns ein Klacks, für sie war es ein Marathon. Glückwunsch junge Dame. Noch eine Nachricht brachte sie, am Abend würde es im Vortragssaal ein kleines Konzert geben. Von Patienten für Patienten organisiert und durchgeführt. Ein Opernsänger, eine Pianistin und eine junge Sängerin gaben Proben ihres Könnens. Doch wie ersetzt ein Opernsänger ein Orchester? Ganz einfach mit einem CD-Player. Nur schnell musste er sein, die Musik finden, starten und in den Saal gehen. Dann die Lieder singen. Und schon wollte der Saal mitsingen, wie ist es doch leicht, die Menschen zum Mitmachen zu bewegen. Selbst klassische Opernklänge ermunterten mindestens zum Mitsummen.
            Nach einigen Arien und Liedern ging es auf der Bühne weiter, der Flügel erklang, die Melodien entschwanden durch den Raum und mit ihnen wanderten Gedanken der andächtig lauschenden Zuhörer nach draußen. Sie eilten nach Haus oder es kamen Erinnerungen an vergangene Konzerte, welche man schon lange nicht mehr besuchte, weil keine Zeit war.
War wirklich keine Zeit, oder nahmen wir sie uns nicht. Zeit ist immer gleich viel vorhanden.
Musik kann man heute überall hören, sogar beim Laufen oder Radfahren.
Zum Abschluss dieses kleinen Konzertes sangen dann doch noch alle Gäste mit den Künstlern ein gemeinsames Lied. Was machte man aber nach solch einem Abend?
            Wir gingen wieder auf die Terrasse, das warme Leuchten der Hainbuchen, der Rhododendren und der weißen Birken fotografieren. Selbst die dunklen Nadeln der Kiefern begannen zu leuchten. Gegen 21 Uhr musste ich an den Strand, der herrliche Sonnenuntergang lockte. Der orange Ball der Sonne sandte eine breite Straße aus Licht über das leicht gekräuselte Meer. Der gesamte Himmel leuchtete in vielen Rottönen und darüber zeigten sich türkise Farbtöne langsam in ein Blau übergehend. Zunächst ein helles Blau doch je höher das Auge schaute wurde es immer dunkler. Das dunkle Blau alter Kaisermäntel schauten sich unsere Vorfahren sicher vom Himmel ab. Die Sonne stieg unbeirrt von ihrer Himmelsleiter in das Meer. Etwas nördlich der Südspitze von Sylt tauchte der rote Glutball in das Meer. Über ihr erstrahlte noch ein letztes Mal eine graue Wolkenbank. Rosa Kissen schwebten über der badenden Sonne.
            Es wurde kühl, wenn das Café noch aufhätte, könnten wir noch sitzen und schwatzen, so war es besser, im Bett noch einige Seiten zu lesen. Den Rest der Woche verbrachten wir mit Anwendungen, kleineren Radtouren und Spaziergängen.



-6-


Es kam der Donnerstag, relativ windstill und sonnig, also bestes Inselwetter. Nachmittags war etwas mehr Zeit und Cora kam mit mir mit auf eine kleine Radtour. Gemütlich fuhren wir wieder am Deich entlang, die Schafe erledigten ihre Deichsicherungsarbeiten und wir freuten uns auf einen Kaffee beim „Wattenläufer.“Es saßen auch einige ältere Herren in ihren bequemen Plastiksesseln vor dem letzten Restaurant vor Amrum, doch lächelnd erklärten sie uns: „Heute ist hier Ruhetag, kommt doch einfach morgen wieder.“ Was soll man tun, also rauf auf das Rad und weiter fahren. Nach Dunsum Ausbau 23 zum „Milk and more“, einem Bauernhof mit Hofladen und Café. Da gibt es bestimmt einen guten Kaffee, aber nee, die hatten auch Ruhetag. Manchmal spielt das Schicksal aber böse mit uns. Haben denn hier alle am gleichen Tag geschlossen? Wir nahmen es mit einer gewissen Gelassenheit, ändern konnten wir sowieso nichts und fuhren eben in die Anstalt zurück. Oh welch ein Glück, der Pächter der Cafeteria hatte sich mal entschlossen, seinem Geschäft nach zu gehen. Er hatte offen und sogar Kaffee. War bei diesem Mann nicht so selbstverständlich und es wurde zum Ende hin auch noch merkwürdiger mit ihm. Für uns wird es immer ein Geheimnis bleiben, wovon er eigentlich lebte, von dieser Arbeit jedenfalls nicht. Der Nachmittag war gerettet, es konnte das Abendessen kommen und dann kam da noch Qigong. Aus reiner Neugier probierte ich es aus und weil Katja mich überredete. Nun gut, wenn ein Bär tanzen lernen konnte, konnte ich es zumindest mal versuchen. Dieses langsame Bewegen, fast in Zeitlupe, stehen auf einem Bein, Wellen schieben oder Wolken ziehen brachte mich zwar zum Schwitzen, doch es überzeugte nicht. Doch man kann nicht zu allem Zugang finden.
Ich hakte diesen Abend als Erfahrung ab, las noch einige Seiten und dann war auch schon Zeit zum Schlafen.
            Der nächste Tag begann wieder recht warm, mal nicht kurz über null Grad, sonnig und relativ windstill. Zwischen den Anwendungen mal wieder runter an den Strand. Es herrschte Ebbe. Der Meeresboden ist erstaunlich fest, später erfuhren wir, hier ist Sandwatt, die Ribbeln zeigen den Wellenschlag an und die Wattwürmer bohren Löcher wie bei uns die Regenwürmer. Neben diesen Löchern liegen so kleine Häufchen, die Ausscheidungen der Würmer, reinster Nordseesand. Sehen bestimmt recht merkwürdig aus, diese Tiere. Doch dann erst die Muscheln, braun, creme, rot und grauschwarz die Miesmuscheln. Austern lagen da halb im Sand verbuddelt, oben auf siedelten Seepocken. In diesen Pocken wieder lebten kleine Krabben. Am Strand lagen auch die Schalen gehäuteter Krabben und der Laich der Wellhornschnecke. Die Steinbuhnen wurden vom Blasentang und Seepocken überwuchert.
Das alles konnten wir sehen, weil das Nordmeer gerade mal weit im Westen, am Ufer der neuen Welt, nachsehen war, ob diese merkwürdigen Zweibeiner immer noch da siedelten. Die sind genauso hartnäckig wie die Zweibeiner auf dem alten Kontinent. Sie bauen auch Deiche gegen die Flut. Kommt das Meer doch mal zu weit aufs Land, bauen sie ihre Dämme eben höher. Dann müssen sie zwar auf den Damm und durch Lücken, wenn sie das Meer sehen wollen, aber trotz aller Sehnsucht, wollen sie es nicht ständig zu Gast haben. Ein Blick zur Uhr, schon endeten die philosophischen Gedanken über die Menschen und das Meer.
Nordic Walking lag an, 450 m eine Runde, immer schön im Kreis und mindestens sechs Runden. Aufwärmen, Dehnen und gehen in einem Tempo, bei welchem sich die lieben Patienten auch noch unterhalten können, ohne Japsen versteht sich. Das machte locker mal 2,7 km zu fuß, eine Strecke, welche manche unserer Mitmenschen schon mal mit dem Auto fahren.
            Am Nachmittag besuchten wir wieder unseren „Meister Nadelöhr“, nicht den Schneider. Er war der Psychologe, welcher uns das autogene Training beibrachte. Er sah aber aus wie Meister Nadelöhr, sehr hoch gewachsen, ganz dünn und sein Kinn zierte eben der typische „Meisternadelöhrbart“. So ein kleiner, spitzer Bart eben. Auf seinem Stuhl saß er immer etwas unruhig, leicht nach vorn gebeugt, die dünnen Arme auf seine dünnen Oberschenkel gelegt. Er erklärte in einer zweiten Lektion die weiteren Geheimnisse des autogenen Trainings. Katja fragte ihn schon beim ersten Mal, ob er etwas leiser reden könnte und wenn er „schwer“ sagte, dröhnte und zischte immer das „w“ in unseren Ohren. Alle waren sofort aus dem Trance erwacht. Mich erinnerte er noch an den Wolf aus den sieben Geißlein, die Zicklein erkannten ihn auch an der Stimme, so würde ich ihn wohl auch jetzt noch an seiner Stimme erkennen. Wir suchten wieder unsere Ruheplätze auf, entspannten uns und er sprach wirklich leiser und angenehmer. Die Meisten von uns schafften es wirklich, sich in den Zustand der Entspannung zu versetzen. Doch wie immer und überall gab es auch in dieser Gruppe eine Dame, welche sehr pflichtbewusst war. Nicht Blondie, diese Dame hier war wohl aus Süddeutschland, zumindest sprach sie den Dialekt der Schwaben. Sie holte ihren Block und den Stift aus dem Täschchen, legte ein Knie über das andere und begann mit zu schreiben. Dabei hatte der Psychologe uns doch einen Plan gegeben, es stand alles darauf. War sie die Protokollantin? Merkwürdige Zeitgenossen gibt es schon, sie hinterfragte auch bei jedem Vortag alles bis ins kleinste Detail, doch was nützte es mir oder ihr, sich mit Kleinigkeiten zu belasten? Diese Frage wird unbeantwortet bleiben.
            Wir hatten danach frei, rauf auf die Räder und fort aus der Anstalt. Über Süderende, Altersum, Midlum und Borgsum ging es zurück nach Utersum in die Anstalt. Glaubt nun bloß nicht, dass wir stur die Straßen vermaßen. Zwischendurch ging es noch in die „Alte Schule“ in Midlum. Richtig gelesen, alte Schule, eine echte Dorfschule mit einer richtigen Schulbank, einer echten Schultafel und natürlich sehr netten Lehrern. An richtigen Tischen wurden die Pausenkuchen mit aufmunternden Getränken serviert. Da Pause war, mussten wir auch nicht lernen, aber wir konnten lesen. In der „Hausordnung“ wurden die Gäste gebeten, Herkules und seine Püppies nicht zu füttern, da sie sonst platzen könnten. Herkules und seine Püppies sind weiße Hühner, vor dem Betreten der Schule wird der Gast schon einmal gewarnt, allerdings davor, dass man nicht auf die Hühnchen tritt. Sehenswert war in jedem Fall der Garten der alten Schule. Mancher von uns kennt ja noch die Schulgärten, alles in preußischer Ordnung, gerade Beete, kein Unkraut und nur nützliche Sachen. In diesem Schulgarten wandelten wir auf verschlungenen Wegen, vorbei an kleinen Tischen in romantischen Ecken.
Auf den Tischen lagen Steine mit der Platzbezeichnung, eine Orientierung für die Bedienung.
Auf den Beeten blühten Tulpen, Pfingstrosen schauten aus dem Kraut, Giersch, Löwenzahn und allerlei andere Wildkräuter bildeten eine vielfältige und duftende Mischung. Natur ist auch in einem Hausgarten schön.



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Bis Samstag vergingen die restlichen Wochentage mit dem üblichen Anstaltstrott, Essen, Behandlungen, Spaziergänge im Park und am Strand, Sport in seinen unterschiedlichsten Formen und manchmal war er auch freiwillig. Aber dann, am Samstag nach dem obligatorischen Eintopfessen auf die Räder und nach Utersum zum Frühlingsfest. Der Zeit und der Bequemlichkeit wegen wieder über die Abkürzung Tribergem. Eine kleine Anmerkung, friesische Sprache ist gar nicht so schwer. Wer etwas plattdeutsch versteht, also schon einmal an der Ostsee war, der kommt hier auch hinter die Bezeichnungen. Ansonsten ist es auch hilfreich, sich die Gegend anzuschauen. Dieses Tribergem ist eine Übertreibung „Drei Berge“ für drei Grabhügel aus der Wikingerzeit. So gibt es hier etliche Bezeichnungen, welche sich auf Flurnamen und Himmelsrichtungen beziehen. Nur aufpassen muss der Gast eben und wer fragt, dem geben sie auch eine Antwort, die eher wortkargen Friesen.
            Im Gemeindehaus boten die Dorffrauen selbst gefertigten Schmuck, Gebrauchsgegenstände wie Handtücher, Seifensäckchen, Socken und allerlei Hausmittelchen an. Einer älteren Frau schauten wir zu, wie sie aus Muscheln, kleinsten Glasperlen und etwas Kleber filigranen Schmuck bastelte. Die gleichen Hände, die im Garten buddelten, die Kühe melkten oder andere schwere Arbeit verrichteten, fertigten hier ganz ruhig diesen Schmuck. Das Leben lehrte sie die Ruhe.
            Angelina kam selbstverständlich nicht an den glitzernden Ohrhängern vorbei, welche Frau kann schon Schmuck widerstehen? Erstaunlich war allerdings, wie rasch sie sich entscheiden konnte. Cora nahm sich das Gefühl des Sturmpeelings vom ersten Sonntag in Wyk mit heim, sie kaufte Peelingseife mit feinstem Nordseesand, natürlich hier auf der Insel gesiedete Seife. Essen gab es zwar auch auf dem Dorffest, aber noch hielt die Linsensuppe vor, so ließen wir die Paella stehen, auch wenn sie so verführerisch duftete und besuchten den Keramikstand. „Kleiner Laden Miez und Maunz“, Moorhoftöpferei, präsentierte seine lustigen Tassen und Becher. Wer den Boden sehen konnte, las „Ebbe“ und bei Flut war der Becher eben voll. Nette Idee, vor allem brauchte man nur den Becher zeigen und man bekam nach geschenkt. Natürlich gab es auch die üblichen Teller, Butterdosen und Sparschweine bei den Töpfern. Doch am schönsten waren die Glocken aus Keramik. Unterschiedlichste Glocken fertigten sie auf Wunsch an, so die Geburtsglocke. Sie wird bei Geburt eines Kindes gefertigt mit sechs Wolken. Nicht als Bedrohung für das Baby, nein, auf den Wölkchen stehen der Name, der Geburtstag, die Zeit, das Gewicht, das Jahr und die Größe bei der Geburt. Die Wölkchen klingeln leise im Wind und sicher beruhigen sie das Baby. Diese Glocken konnte man auch als Taufglocken oder Großelternglocken bestellen. Doch manchmal werden Kinder ja auch noch in der Ehe geboren und so schenkt man den Eltern eine Hochzeitsglocke. Diese kann zur Familienglocke werden. Sollte sie allen Stürmen des Lebens standhalten, dann gibt es nach fünfundzwanzig Jahren die Nächste und so kann es weiter gehen zur Goldenen Hochzeit, der Diamantenen oder der Rubinhochzeit und was es sonst noch alles an Hochzeitstagen gibt. Keine Angst, man benötigt keinen eigenen Glockenturm, nur einige Haken in der Decke. Fliegen doch mal die Türen in der Ehe, dann klingeln leise die Glocken im Luftzug und berührt dieses Klingeln noch die Herzen, wird bestimmt alles wieder gut. Eine Umarmung, ein leiser Kuss und ein Lächeln lassen den Zorn vergehen und die Wolken verfliegen. Ihr glaubt es nicht? Versucht es doch einmal mit einer Glocke.
            Wir zogen weiter durch die Wiesen nach Süderende zur Kirche. Wieder ging es zum Kirchhof. Hier sind die buntesten Grabsteine. Richtig bunt sind sie ja nicht, auf weißem Grund erzählen sie die Geschichte der Menschen und von ihrer Hoffnung auf die Wiederauferstehung nach kurzer Ruhe. Blaue Ränder zieren die Grabsteine und an grünen Stängeln sitzen die Blüten für die Mädchen und Frauen und die Jungen und Männer.
Vielleicht stehen die Farben Blau und Weiß für das Meer, blau im Sonnenschein leuchtend und mit weißen Schaumkronen dahin ziehend. Oder sie stehen für den weiten Himmel über der Insel. Hellblau mit weißen Wolken überspannt er die grüne Insel. Wir konnten es nicht ergründen. Die Kirche ähnelt dem Friesendom in Nieblum, nicht ganz so groß, doch im Baustil gleich. Auf diesem Kirchhof ruhen auch die Verstorbenen der Lungenklinik Utersum, nicht namenlos ruhen sie alle nebeneinander. Eine ältere Frau konnte sich noch daran erinnern, wie regelmäßig in den ersten Jahren nach dem Krieg die Verstorbenen hier beigesetzt wurden.
            Zwischen hohen Büschen steht ein besonderer Grabstein. Das Denkmal des „Glücklichen Matthias“. Er war einer der erfolgreichsten Walfänger und schon mit zwanzig Jahren Kommandeur eines Walfangschiffes. Diesen Beruf hatte er wohl fünfzig Jahre inne, und weil er so erfolgreich war, stifteten er und sein Bruder der Kirche in Süderende zwei Messingleuchter. Sie sind heute noch dort zu sehen und werden benutzt. Sein Grabstein, übermannshoch, ist in Latein beschriftet und erzählt sicher von seinem Leben.
Heute würden ihn die Anhänger von Greenpeace und ähnlichen Organisationen jagen. Doch wer gibt uns das Recht, über ihn zu richten, wo wir doch gerade selbst die Welt drangsalieren und kaputtmachen? Nachdenklich schwangen wir uns auf die Räder. Nur kurz war der Weg, es ging nach Oldsum, nur einen Kilometer. Ziel war „Stelly`s Huus“, eine Töpferei mit Café und kleinem Museum. Ein gemütlicher Ort zum Verweilen mit gutem Kaffee und feinstem Kuchen, einer netten Ausstellung von alten Gebrauchsgegenständen und neuem Steingut. In diesem Café kamen Dorle und Katja wieder zu der Gruppe. Ziemlich erfroren waren sie, trotz Sonnenschein war es recht kühl draußen. Mit heißem Kaffe und etwas geistigem Getränkezuschuss erwärmten sich die Zwei und so konnten wir unsere Drahtesel wieder satteln. Immerhin wartete das Anstaltsabendessen noch auf uns und der Weg durch die Wiesen war auch einige Kilometer lang. Draußen diskutierten Einheimische, wen sie am nächsten Tag wählen wollten. Es standen Landtagswahlen in Schleswig – Holstein an.
Einer wollte unbedingt die Freien Demokraten wählen, weil ihn einige Zeitgenossen ärgerten und er zitierte auch sofort Einen. „So lang der Arsch noch in die Hose passt, wird keine Arbeit angefasst.“ Sicher sind diese Menschen ärgerlich, doch er hatte wohl auch keine Antwort auf die Frage, was mit denen wird, die nichts finden. Die mit fünfzig zu alt sind oder mit zwanzig noch keine dreißig Jahre Berufserfahrung haben. Nun, uns ging die Wahl nichts an, wir hatten keine, es musste zurück in die Anstalt gehen. Der bislang sehr ruhige Wind frischte auf, ein Zeichen? Wir schafften es pünktlich zurück und ein schöner Samstag ging zu Ende.


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Wahlsonntag auf Föhr, wir hatten schon gewählt. Pünktlich um 09:15 Uhr fuhr unser Wahllokal vor. Wir gaben unseren Zwanzigeurowahlschein ab, bekamen dafür einen gültigen Fahrschein und los ging es nach Wyk. Fototour am Hafen, durch die Häberlinstraße, Teetrinken am Sandwall und auf dem „Fischmarkt“ ein „Reichskanzlerheringsbrötchen“ essen. Sehr lecker dieser „Reichskanzlerhering“ in warmen Brötchen. Im Allgemeinen ist dieser „Reichskanzlerhering“ als „Bismarckhering“ bekannt, nur damit hier niemand auf falsche Gedanken kommt.
            Es gibt auch einige nette Beobachtungen in dieser Stadt Wyk. So werden am Sandwall die Radfahrer ganz freundlich gebeten abzusteigen. Mit folgendem Spruch geht dies: „Vernünftige fahren hier nicht mit dem Rad- den Anderen ist es verboten“
Warum geht es hier so nett und anderenorts gibt es nur harsche Verbotsschilder?
Oder der Hinweis am Hafentor: „Hafengrenze, nur Hafenverkehr zugelassen, sonstiger Verkehr auf eigene Gefahr.“ Netter Hinweis und ein Jeder schmunzelte über dieses Schild.
An diesem Sonntag wurden wir nicht sandgestrahlt, doch es war etwas trüber. Gegen Mittag setzte sogar leichter Regen ein. Wir nahmen nach dem spartanischen Heringsbrötchen unsere Fahrscheine und enterten die „Hauke Haien“, ein schnittiges Kreuzfahrtschiff der etwas kleineren Art. Es ging auf „Große Fahrt“ über das Wattenmeer zu den Halligen und den Seehundbänken. Neptun hatte wohl Mitleid mit uns Landratten, es klarte auf und der Seegang war recht magenfreundlich. Die erste Hallig war Langeness, steuerbords versanken die letzten Häuser von Wyk hinter dem Horizont und backbord tauchten die Warften von Langeness aus dem Dunst wie kleine Burgen auf. Im gewissen Sinne sind die Warften ja auch Burgen, sie schützen nicht vor Piraten, doch vor der allzu neugierigen Nordsee bei Sturmflut. Bei Nebel erinnern diese Warften bestimmt an Segler, an den „Fliegenden Holländer“ oder Geisterinseln. Als wir den kleinen Hafen und den Leuchtturm von Langeness hinter uns gelassen hatten, riss der Himmel vollends auf und strahlender Sonnenschein begleitete uns auf der weiteren Fahrt. Der Wind frischte zwar etwas auf, aber immer noch erträgliches Schaukeln. Der sehr schweigsame Käpt`n suchte sich den Weg durch die See sicher nach den Gezeiten, immer wieder wechselte er den Kurs, doch wir wollten nicht auf Grund laufen, schließlich wussten wir nicht, wie man ein Schiff anschiebt.
            Plötzlich meldete sich der Kapitän doch zu Wort. Allerdings nur, um uns mitzuteilen, dass er in zehn Minuten auf Hooge festmacht, wer will soll aussteigen und in drei Stunden wieder am Kai stehen, dann ginge es zurück. Wir wollten aussteigen. Hoffentlich hielt der Kapitän auch Wort und kam wieder. Solch eine Hallig ist zwar nicht so einsam wie Robinson Crusoes Eiland, doch auf normalem Weg nicht mehr zu verlassen. Am Anleger standen natürlich die Fahrradverleiher, aber auch Planwagenlenker mit gemütlichen Zossen der Marke Schleswiger. Sehr ausdauernde und gemütliche Pferde,  nicht die schnellsten Traber, doch irgendwie passten sie zu den Menschen an der Küste, immer mit der Ruhe, nur nicht hetzen. Das war auch eine Lehre bei dieser Reha, mache in Ruhe, Hast schadet nur.
Willi, unser Planwagenlenker, war schon um einiges gesprächiger als der Käpt`n der „Hauke Haien“. Zunächst stellte er seine Gefährten vor, erzählte, dass sie nur jeden zweiten Tag arbeiten mussten, im Gegensatz zu ihm und im Stall noch zwei Pferde warteten. Pferd müsste man sein, Teilzeitarbeiter. Unter ständigen Erklärungen fuhr er mit uns zur „Hanswarft.“ Endlich sahen wir solch ein „Geisterschiff“, eine „Fluchtburg oder wie die Fantasie solch ein Gebilde auch immer bezeichnete aus der Nähe. Sechs Meter hoch eingedeicht standen die Häuser auf der Hallig. Wie in einem Talkessel schmiegten sie sich dicht aneinander. In der Warft der kleine Halligladen, ein Restaurant, ein Inselkino mit einem Film über Sturmfluten. Draußen fraßen die Ringelgänse die Weiden ab, einheimische Kühe mussten Silage und Heu fressen, drinnen blühten die Blumen und es war beinah windstill und angenehm warm. Fast schon richtiger Frühling. Auf der Hallig gab es auch eine Schule, zwei Schüler, von denen einer sogar aus Lübeck importiert war. Mit Abschreiben war da wohl nichts und der Lehrer hatte es sicher auch einfacher. Immerhin musste er nicht fünfundzwanzig Aufsätze, Klassenarbeiten oder Diktate durchsehen. Neben der Schule hatten sie sogar einen Kindergarten mit fünf Zwergen. Sehr überschaubar die kleine Rasselbande.
            Wir mussten uns entscheiden, drei Stunden sind nicht lang, also besuchten wir den „Königspesel“, ein Museum in einem alten Kapitänshaus. Das älteste Privatmuseum in Schleswig-Holstein. Zunächst kam natürlich die Erklärung, was ein Pesel ist. Es ist die gute Stube der Friesen, das Wohnzimmer. Früher neben der Küche der einzige Raum, welcher beheizt wurde. In ihm stand in einem Alkoven auch das Bett der Familie. Klein mussten sie gewesen sein, oder sie schliefen im Sitzen. Soll so gewesen sein, weil sie bei der feuchten Luft öfter erkältet waren, die Menschen damals. Das bekommt man in anderen Gegenden auch erklärt. Königspesel nun deswegen, weil Hooge damals zu Dänemark gehörte und Friedrich VI. von Dänemark nach einer Sturmflut 1825 die Hallig besichtigte. Er sagte wohl auch Hilfe zu, aber wegen widriger Umstände konnte er die Hallig nicht verlassen und musste dort übernachten. Die Hilfe kam wohl auch und ihm zu Ehren heißt die gute Stube eben „Königspesel“. Beindruckend die Wand- und Deckenmalereien, ebenso die die Delfterkacheln mit biblischen Motiven. Die Besitzer des Hauses mussten sehr wohlhabend, aber auch kunstsinnig gewesen sein. Aber auch die Handwerker in alten Zeiten bauten für die Ewigkeit. Eine Uhr lief nach dreihundert Jahren noch genau, die Möbel standen stabil und benutzbar im Raum und sicher haben die Bewohner alles durch Benutzung erhalten. In der Küche beeindruckte der offene Herd, Geschirr säuberlich an den Wänden, neben dem Herd aufgestapelt in einer extra Kammer, das Brennmaterial. Holz gab es kaum, höchstens Treibholz. Dafür getrockneter Kuhmist als Feuermaterial. Wasser zum Trinken war bis 1969 knapp, sie sammelten Regenwasser für sich und das Vieh. Einen Arzt gibt es nicht, dafür einen Sanitäter und die Feuerwehr. Wer also einsam leben möchte, kann es auf einer Hallig versuchen. Gemeinsinn ist jedoch unabdingbar, allein geht man unter.
            Wir hatten noch Zeit, so wanderten wir zur nächsten Warft. Unterwegs flanierte die „Heidi Klum“ der Heringsmöwen immer vor uns rum. Natürlich fotografierten wir sie in ihrer vollen Schönheit, doch leider hatten wir kein Honorar für diese Möwe. Entlang der abgefressenen Weiden auf einer gut ausgebauten Straße ging es zur nächsten Warft. Zeit für ein Gruppenfoto und einen Schwatz mit einem Einheimischen. Auf der Hallig geboren, hier geblieben und sich eine Frau „eingefangen.“ Manchmal bleiben eben Touristen auf einer Hallig und leben dann dort. Fast war die Zeit schon um, Willi wartete mit seinen Kumpeln an der Hanswarft. Auf den Planwagen und dann auf zur Kirchwarft. Nach der Sturmflut 1632 war die Zerstörung groß, die alte Kirche weg, der Weg zur Nachbarhallig zerstört, die Insel war einfach zerrissen und die Frauen bauten aus Trümmern eine neue Kirche. Sie suchten Steine zusammen, nahmen das alte Taufbecken und irgendwann war die kleine Kirche fertig. Nur die Bänke stehen auf dem Sand der Hallig, aber trocken war sie innen. Um das Kirchlein wieder der Kirchhof und an der Kirche direkt angebaut das Pfarrhaus, einiges größer als die Kirche. Die einzige Glocke steht in einem Glockenstuhl vor der Kirche. Es ist bestimmt schön, wenn ihr Geläute über die Hallig schwebt, hinaus in die Weite des Wattenmeeres.
Wieder einmal erlebten wir, wie die Frauen die Karre aus dem Dreck gezogen hatten.
            Willi brachte uns pünktlich zum Anleger, das Schiff war auch da und wir machten uns auf den Heimweg. Im Vorschiff stehend, die Nase im Wind ging es wieder nach Föhr zurück. Plötzlich eine Durchsage, des immer noch schweigsamen Kapitäns, das Vorschiff füllte sich und wir näherten uns mit langsamer Fahrt den Seehundbänken. Da lagen die imposanten Tiere in der milden Sonne auf ausgedehnten Sandbänken. Offensichtlich kannten sie die Besichtigung durch Menschen, eine Robbe eilte noch schnell auf die Sandbank, kurz mit dem Nachbarn geschwatzt und dann in Positur gebracht. Ein letzter Blick einer großen Robbe über die Gruppe, alles fertig zum Fototermin. Ihr glaubt es nicht? Fahrt einfach einmal hin, wie diese Tiere scheinbar sich sehr wissend den Schaulustigen präsentieren. Zum Glück gibt es wieder ausreichend Robben in der Nordsee und zum Glück nimmt die Vernunft weiter zu, sie werden dort jedenfalls nicht gejagt. Nach der Passage nahm die „Hauke Haien“ wieder Fahrt auf, das Vorschiff leerte sich und wir genossen die Fahrt in den Sonnenuntergang. Am Horizont tauchte langsam Föhr aus dem blau leuchtenden Meer auf, die „Adlerexpress“ kreuzte unseren Kurs in eiliger Fahrt mit Gischt vorm Bug und Gischt am Heck.
            „Gischt schäumt um den Bug wie Flocken von Schnee“ dichtete einst Fontane in seinem „John Maynard“, nur Feuer brach nicht aus, zum Glück für uns. Bei Ebbe erreichten wir etwas durchgefroren die alte Mole von Wyk. Über glitschige Stufen ging es nach oben und mit dem gut geheizten Bus zurück in die Anstalt. An diesem Abend war uns nicht mehr nach langen Spaziergängen.



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Montag, die letzte volle Woche für Cora und mich war angebrochen. Die anderen Mädels wollten noch bleiben, ich hätte ja auch gesollt, doch manchmal gibt es leider Zwänge, die dies verhindern. Wie immer begann auch diese Woche mit einer Visite. Der Doktor war ganz zufrieden, bei den Mädels schien es auch so zu sein und wir konnten unseren Beschäftigungen nach gehen. Muckibude, Nordic Walking, Wassersport und einige Patienten traten in die Fußstapfen Robin Hoods oder eher in die des „Grünen Bogenschützen“? Naja, die alten Engländer waren da wohl besser in der Handhabung von Pfeil und Bogen, doch es kam ja auf die Bewegung an und den Spaß in der Gruppe. Lebensmut und Kraft sollten wir tanken, Anregungen für das Leben nach der Reha wollten sie uns mitgeben.
            Das Café war selbstverständlich wieder zu, so trafen wir Kaffeejunkies uns im „Ual Skinne“ in Utersum. Die Wirtin freute es sicher, sie machte den Umsatz, den der Wirt in der Anstalt nicht haben wollte. Nach dem Abendessen konnte man sich auf den verschlungenen Wegen des Parkes mit den „Einheimischen“ treffen, Hasen, Rehe, Kaninchen und Fasane. Alles, was diese abfraßen, mussten die Anstaltsgärtner nicht mehr mähen. So ähnelten diese Tiere den Schafen auf dem Deich, sie waren aber freier, nur die Insel begrenzte ihre Freiheit. Jeder Weg führte hier unweigerlich zum Strand. Dort, hinter den Büschen, trafen sich die Smoker. Hier konnten sie ihrem Laster frönen. Vor zwei Jahren gehörte ich auch noch zu diesen Menschen. Welch ein Glück, ich wurde „erwachsen“, musste nicht mehr nuckeln. Doch es war ein harter Weg und steinig dazu, also verurteilte ich keinen Raucher. Vielleicht schaffen es noch einige von ihnen, mit dem Laster aufzuhören. Sie müssten nur einmal die Genüsse des Nichtrauchens kennenlernen. Leider ist die Wissenschaft da noch nicht weiter, wenigstens mal einen Tag zeigen, wie wohl man sich fühlen kann, riechen und schmecken wie damals als nichtrauchendes Kind.
            Das Wetter trübte sich ein, so wie die Stimmung in der Klinik auch an Reisetagen.
Komisch ist es, wenn jemand geht, werden die Zurückbleibenden melancholisch. Manche nette Bekanntschaft fuhr heim, begleitet mit den besten Wünschen der Zurückbleibenden, mit schönen Erinnerungen im Gepäck und einige hatten ihre ersten selbst gemalten Gemälde in ihren Taschen, trugen Texte aus der Schreibwerkstatt heim und jede Menge guter Vorsätze. Ich glaube schon, dass solch eine Zeit der Unbeschwertheit, der relativen Ruhe und dem angenehmen Gefühl der Geborgenheit und Umsorgtheit Menschen aufbauen kann.
Regen begleitete die Reisenden und begrüßte die Ankommenden. Noch ahnten wir nicht, dass es in einer Woche auch bei Cora und mir so sein würde. Bis zum Donnerstag sagten die Wetterfrösche solch ein Wetter voraus, aber nach einem Donnerwetter und heftigem Regen in der Nacht besserte es sich so weit, dass wir mit den Rädern zu „Milk and More“ fahren konnten. Leckerer Apfelkuchen und Kaffee mit frischer Milch warteten mal wieder auf uns. Die Milch geht nicht frischer als auf einem Bauernhof. Der Altbauer war noch immer in Flensburg im Krankenhaus, die Inselärzte hatten ja nicht alle Möglichkeiten wie auf dem Festland. Das hieß natürlich auch, nicht jeden Nachmittag konnte die Bäuerin mal eben ihren Mann besuchen. Da wurde uns wieder bewusst, wie gut es uns Festländern eigentlich geht, wir sind in mancher Beziehung ziemlich verwöhnt.
            Mittwoch nach dem Abendessen gab es „freies Singen“ mit Leuten, die sich einfach mal trauten. Dreißig Rehabilitanden waren wir auf der Bühne. Schön im Kreis sitzen und sich freuen, dass wir mal wieder singen konnten. Doch so einfach ging es dann doch nicht bei unserer Chorleiterin. Erst einmal einen Satz heiße Ohren machen, nicht gegenseitig ohrfeigen, einfach die Ohren an den Rändern reiben, bis sie glühen. Nun ein Lagerfeuer in der Mitte des Kreises anfachen, pusten, ganz heftig in die schwelende Glut blasen. Na bitte, es ging doch, hoch lodern die imaginären Flammen. Plötzlich klingeln die Telefone, abnehmen und in drei Tonlagen sich einfach mal mit ja, jaaah, ja melden, um dann noch die summenden Bienen nachzuahmen. Summen, bis die Lippen kribbeln. Endlich schienen wir warm genug zu sein und wir bekamen unsere Texttafeln mit Noten. Mailieder standen auf dem Plan.
„Komm lieber Mai und mache …“; „Alle Vögel sind schon da …“ und einige andere Lieder, von denen ich glaubte, sie schon fast vergessen zu haben. Natürlich durfte auch ein Canon nicht fehlen, dreistimmig bitte schön: „Es tönen die Lieder, der Frühling kehrt wieder …“. Es klappte sogar wunderbar. Auch das berühmte Lied vom Kuckuck und dem Esel, ihr wisst schon, sie hatten einen Streit, gelang mehrstimmig. Schnell, viel zu schnell, verging wieder eine Stunde. Es ist erstaunlich, wie man seine Zeit sinnvoll nutzen kann, wenn man einfach einmal nicht fernsieht, wenn man sich trifft wie früher und Spaß hat. Auch wieder ein dezenter Hinweis auf Entschleunigung.
            Der nächste Morgen, ein Donnerstag ohne Donner aber mit Regen, brachte uns wieder in das Schwimmbecken. Aquajogging mit Froschhänden war uns ja bekannt, doch die Therapeutin verschärfte die Übung. Jeder über einer gewissen Größe musste Schaumstoffschuhe tragen. Bei normaler Fortbewegung noch kein größeres Problem, aber dann. Das Ganze rückwärts, so schnell es geht und dabei bremsten die netten Schuhe gewaltig die Geschwindigkeit. Sie waren hinten offen. Aber auch diese „Tortur“ ging vorüber und die anderen Anwendungen wurden für diesen Tag gemäßigter. Eines mussten wir den Planern der Reha lassen, sie konnten Belastung und Erholung gut abstimmen.
            Den berüchtigten Vogel schoss an diesem Tag allerdings der Wirt der Cafeteria ab. Er schloss aus „statischen Gründen“ die Budike und warnte vor dem Betreten der Terrasse. Damit hatte er wohl endgültig die Anstaltsleitung gegen sich aufgebracht. Ich lernte in meinem Leben schon manchen schrulligen Menschen kennen, aber dieser Wirt war doch etwas Besonderes. Nun ja, dann eben wieder in das bekannte Café. Joghurtsahnetorte mit Himbeeren, Süßes und Saures vereint, heißen Kaffee und alles im Haus, draußen war es noch zu ungemütlich. Mit Cora und Angelina bestellten wir einen Tisch für den Dienstag der nächsten Woche, hörte sich weit weg an, war aber nur noch vier Tage weit bis dahin. Unser gemeinsames Abendmahl oder Abschiedsessen sollte es werden. Wir freuten uns schon alle auf ein saftiges Steak. Nichts gegen die Anstaltskost, aber unseren Abschied mussten wir mit einem opulenten Mahl versüßen. 
            Der Freitag begann wieder mit Regen, die Wetterküche setzte mal wieder auf Abwechslung, Aprilkost im Mai. Zu Strandläufen reichte es, auch zu Fotos der „aufgewühlten See“. Einheimische haben dieses Wetter und den Wind lächelnd als normal abgetan, doch für uns war es schon beeindruckend. Zum Nachmittag wurde es etwas besser, also wieder auf die Räder und über die Insel. Natürlich zum Bauernhof, einen Kaffee und keinen Kuchen, dafür warme Socken, der nächste Winter kommt bestimmt. Über Süderende führte uns der Weg. „Altes Pastorat“ ehemaliges Pastorenhaus und „Seefahrerschule“, hier lernten Föhrer Mathematik und Navigation, heute Landhaushotel, daneben viele liebevoll erhaltene Häuser. Diese Häuser luden einfach zum Fotografieren ein. Beeindruckend die Flutsäule an der Straße nach Utersum. Der „Blanke Hans“, die Sturmflut vom Februar 1962, brachte Wasser 4,35 m über Normalnull. Das Dorf liegt aber drei Kilometer vom Strand entfernt. Unerschrocken müssen Friesen wohl sein und aufgeben gab und gibt es wohl nicht. Leicht ist das Leben mitten im Meer sicher nicht, außer man ist Fisch und selbst dann muss man aufpassen, dass man nicht gefangen wird. Der Abend brachte uns noch einen Vortrag des Inselfotografen, auch ein Zugereister. Wie so oft sah er als Zugereister Dinge, die Einheimische nicht unbedingt beachtenswert finden. Dies ist eben das Privileg der Zugereisten und Gäste. Erstaunliche Aufnahmen von gleichen Objekten in unterschiedlichen Jahreszeiten, längst Vergangenes in Fotos bewahrt und dabei für alle Betrachter spürbar, er lebte gern hier auf der Insel, mitten im Meer.  
            Nachts kam Sturm auf, putzte den Himmel blank. Am Samstagmorgen kamen richtige Wellen mit weißen Schaumkronen an den Strand. Das Meer war blau, blau wie der Himmel. Sylt zeigte sich in herrlicher Pracht, nur vier Kilometer weg vom Utersumer Strand, doch zu Fuß nicht erreichbar. Immer am Wasser entlang Richtung Dunsum. Am Gästehaus mussten wir über den Deich und hinter den Deich. Weiter ging es nun ohne Sandstrahlen in relativer Wärme. Sicher auch, weil wir natürlich dicke Jacken anhatten. Rechts des Weges befanden sich Vogelkojen, wenigstens einmal in eine solche Koje schauen. Früher, als die seefähigen Männer zum Walfang fuhren, die Frauen die meiste Zeit des Jahres selbst für den Unterhalt der Familien arbeiteten, entstanden diese Vogelkojen. In den Teichen schwammen natürlich Fische, welche sie auch aßen, doch wichtiger waren durchziehende Vögel. Sie wurden gefangen auf diesen Teichen, mitten zwischen Büschen. Verkauft brachten sie etwas Geld in die Taschen, gegessen füllten sie hungrige Mägen. Heute holen sich die Menschen ihren Vogel natürlich aus dem eigenen Stall, beim Bauern oder eben im Supermarkt. Doch damals, Not und Hunger machten schon immer erfinderisch.
            Am Abend dann noch ein Vortrag und Diskussion mit Frau Dr. Fuchs über unsere eigenen Kraftquellen. Darauf muss man erst einmal kommen, die Kraft zum Weiterleben in sich selbst zu finden. Wie oft hört der Mensch: „Steh einmal mehr auf, als Du fällst.“ Doch ist es immer einfach? Egal welchen Grund es für den Fall gab, Scheidung, Krankheit, Verlust eines Menschen und Mensch steh auf?
Was lächeln wir manchmal über den Spruch: „Wenn Du denkst es geht nichts mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.“
Baron von Münchhausen zog sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf, wir lächelten über diesen Lügenbaron, doch vielleicht war es ein frühes Werk eines unbewussten psychologischen Ratgebers?
            Auf den ersten Blick scheint es etwas lächerlich, unwirklich und unreal. Doch bei längerem Nachdenken und zur Ruhe kommen, findet man seinen Weg. Vergessen wir nie die Kraft, welche in uns wohnt, erinnern wir uns immer an Momente, in denen wir aus dunklen Schluchten wieder hoch ans Licht kletterten.


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Es war nun für Cora und mich der definitiv letzte Sonntag in der Anstalt. Cora hatte aus einer Zeitung oder dem Inselprogramm erfahren, dass an eben diesem Sonntag vor Himmelfahrt ein Gottesdienst im Friesendom stattfindet, in welchem skandinavische Kirchenlieder vom Posaunenchor der Kirche gespielt werden. Nach dem Frühstück schwangen wir uns bei Sonnenschein auf die Räder, radelten frohgemut die sechs Kilometer über die Traumstraße zur Kirche. Noch war etwas Zeit und wir schlenderten über einen Teil des Kirchhofes, welchen wir bei unserem ersten Besuch nicht sahen. Hier mussten wir feststellen, dass die Gefallenen Männer, Söhne und Brüder auch aus dem letzten Krieg zu mindestens ein ehrendes Gedenken erhielten. So lagen im Schatten der Kirche und eines mahnenden Obelisken die Grabsteine der „unfreiwilligen Helden des Vaterlandes.“ Möglicherweise würden einige heute auch gern den Gottesdienst besucht haben, ebenso wie die zivilen Opfer, Frauen, Kinder und Alte, welche auf der Flucht hier durchkamen und verstarben. Überall mahnen uns solche Steine und man muss erst älter werden, um ihren wahren Sinn zu begreifen. So viele „Helden“ verträgt kein Land und Mütter vertragen erst recht nicht so viele tote Söhne, Töchter und Männer. Komische Gedanken kommen einem an einem sonnigen Sonntagmorgen auf einem Kirchhof. Wir gingen in das Gotteshaus, suchten uns einen Platz und harrten der Dinge, die da kommen würden. Gut besucht war die Kirche, auch von einigen Patienten der Anstalt, aber hauptsächlich von Einheimischen. Sie kamen mit Kind und Kegel, klein und groß, Jung und Alt. Mit dem Singen war es allerdings so eine Sache, einige kannten die Texte nicht, ich gehörte auch in diese Gruppe, andere trauten sich möglicherweise nicht und der Rest der Gemeinde sang verhalten und leise. Erstaunlich war die Musik aus dem Norden Europas. Kraftvoll und gar nicht so kirchlich, wie ich es erwartet hätte. Ein Lied kannte wohl jeder, aus Schweden kam es und ist bei uns als „Volksweise“ bekannt. „Im Frühtau zu Berge, wir ziehn …“. Nun, wenn die Kirche eine Volkskirche ist, dann kann auch ein Kirchenlied durchaus als Volksweise bezeichnet werden. Der Pfarrer erzählte über die natürlichen Verbindungen der Friesen zu Skandinavien, die Gemeinsamkeiten der Völker und zum Schluss lud er zum Abendmahl. Die Kirchenmitglieder trafen sich im großen Kreis, die Gäste schauten andächtig zu. Irgendwie glauben wir in unserem Innern vielleicht alle, zu mindestens können wir uns dem Glauben ein Stück weit öffnen. Vielleicht leben Gläubige, egal welcher Religion sie angehören, etwas freier. Vielleicht ist es auch eine Kraftquelle in manchen Menschen, von denen wir am Samstagabend mit Frau Fuchs sprachen.
            Cora musste unbedingt noch einmal in das Teehaus. Natürlich fuhr ich mit und wie immer gab es eine Tasse Tee in dem gastlichen Haus. Eine neue Mitarbeiterin bediente uns heute. Offensichtlich eine Osteuropäerin, Polin oder Russin mit sehr guten Deutschkenntnissen. Wie es sich am folgenden Dienstag zeigen sollte, kannten wir ihren Ehemann schon einige Tage länger, er war der Kellner im „UAL SKINNE“. Sie war studierte Slawistin, beherrschte neben ihre Muttersprache polnisch auch Deutsch, Russisch, Litauisch und bekam keine Arbeit in der Heimat. Wie ähnlich sind sich doch die Schicksale in diesem Europa. Aber sind dies die hoch qualifizierten Gastarbeiter, die Deutschland so dringend benötigt. Als Russischlehrerin oder überhaupt als Lehrerin wäre sie an dem richtigen Platz. Nun verkaufte sie Friesentee an Einheimische und Gäste. Verkehrte Welt, Europa auf dem Irrweg?
            Nach den Einkäufen machten wir uns auf den Weg zur Anstalt, Mittagessen am Sonntag, das erste Mittagessen übrigens an einem Sonntag für uns in der Anstalt. Sonst waren wir ja immer unterwegs. Nach dem Essen dann mit Cora und Angelina die letzte größere Radtour nach Alkersum. Ziel war das Museum „Kunst der Westküste.“ Ein ehemaliger Gasthof, heute auch noch Café mit großem Saal, Herberge für Künstler aller Länder. Nach einigen nicht sehr erfreulichen Gästen schaffte es dann doch irgendwann ein Maler, Frau Hansen umzustimmen. Sie gewährte ihm Unterkunft und so begann wohl die Geschichte der Kunst in Grethjens Gasthof. Mit einem Stifter, Dr. Frederik Paulsen sen., begann dann das eigentliche Museumsleben in Alkersum. Wie in allen Museen der Welt begann der Rundgang natürlich mit einem moderaten Eintritt und wegen eines bedauerlichen Brandschadens in zwei Räumen, wurde dieser Preis sogar reduziert. Schade, denn so fehlten uns einige Eindrücke. Allerdings durften wir uns noch einer Führung anschließen. Zunächst gab es eine Ausstellung einer dänischen Künstlerin, welche Frauen in der Tracht dänischer Nordseeinseln fotografierte.
Auf den ersten Blick erinnerten die Fotos an das „berühmte Bildnis“ einer Tuareg. Mancher kennt dieses Foto mit den beeindruckenden braunen Augen in einem ansonsten verhüllten Gesicht. So schauten die Augen der Frauen auch auf diesen Fotos von TRINE SØNDERGAARD hinter den Schleiern der Trachten aus den alten Tagen hervor. Es gab schon Unterschiede in der Tracht und die Augen waren auch nicht so leuchtendes, warmes Braun. Diese Augen waren so grünblau wie das Meer, an dessen Küsten die Menschen hier lebten. Von dieser Fotoschau „Strude“ führten uns unsere Erklärer auf eine Galerie. Ein weiter Blick in den Saal öffnete sich, die Inselfrauen beim Häkeln. Den Grund für diesen Häkeleifer erfuhren wir später, zunächst Gemälde der romantischen Heimatmalerei im neunzehnten Jahrhundert. Daneben dann Fotos aus dem richtigen Leben der Föhrer, nichts mit Romantik, harte Arbeit in schwerer Tracht prägte ihr Leben. Diese Tracht war nicht nur einfach Symbol für ihre Herkunft, sie schützte sie vor dem Wind, der Sonne und dem „Sandstrahlen“ auf den Feldern. Wir konnten ja abbiegen und uns hinter Häusern verstecken, doch die Menschen, welche hier leben und arbeiten mussten und müssen, müssen mit ihrer Umwelt klarkommen. Durch einige neue Nebengebäude mit kleinen Installationen verschiedener Künstler, hauptsächlich Videoarbeiten kamen wir in einen alten Anbau des Museums. Bilder von Schiffbrüchen zierten die Wände. Meistens waren es schon ältere Gemälde, sehr realistisch dargestellt und doch auch romantisch, in der Art eines Caspar David Friedrich eben. Doch ein Gemälde stach sofort ins Auge, der Untergang der französischen Fregatte „Medusa.“ Seinerzeit in Frankreich eine Staatsaffäre, von Theodore Gericoult 1819 gemalt, versuchte sich ein junger Künstler in einer neuen Technik mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Von Weitem ein Gemälde, aus der Nähe eine gute Arbeit mit einem Computer, Fotoapparat und Collagetechnik. Durchaus ansehenswert in dem Kontrast zu den romantischen Gemälden. Endlich sahen wir auch die Häkelarbeiten der Inselfrauen wieder. Sie häkelten ein Korallenriff nach den Vorstellungen zweier amerikanischer Künstlerinnen. Andere Frauen bauten die Korallen zusammen zum Riff. Hoffentlich ist es mal nicht das Einzige, welches überlebt. An dieser Stelle waren einige Fotos erlaubt und die Führung endete.
            Kaffee trinken war angesagt und notwendig, dann Heimfahrt in die Anstalt. Der letzte Sonntag war wenigstens auch schön vergangen. Montags die letzte Visite für uns, als arbeitsfähig entlassen. Natürlich noch gute Ratschläge vom Doktor, doch in Gedanken schon beim Abschied. Nur noch kleinere Anwendungen lagen an, Spazierengehen und mit dem Rad am Deich entlang. Abends noch eine letzte Stunde Schreibwerkstatt mit Frau Fuchs. Diesmal las sie uns ein Gedicht vor. Es begann mit den Worten „Ich gehe die Straße entlang …“
Erzählte von einem Menschen, der immer wieder in ein Loch fiel, aber eines Tages selbst dort raus kam. Wir waren wieder an dem Punkt vom letzten Samstag, passe auf dich selbst auf, suche die Kraft in dir und dir wird geholfen. Wieder bekamen wir fünf Minuten für unsere Gedanken und die Kugelschreibergeräusche auf dem Papier waren die einzigen Geräusche im Raum. Im Anschluss durfte wieder vorgelesen werden. Cora war diesmal mit und sie war richtig stolz, doch ihre Gedanken behielt sie für sich. Niemand musste vorlesen, bei mir kamen diese Gedanken hervor:

           

Ich gehe die Straße entlang, die Straße meines Lebens.
Am Anfang schob mich meine Mutter dort im Wagen entlang, später lief ich an ihrer Hand. Eine ganze Weile liefen wir so. Eines Tages lies sie mich los und ich musste allein laufen. Ich konnte es. Sie geht immer noch manchmal neben mir. Doch seit langer Zeit geht meine Frau neben mir. Wir schoben unseren Sohn in seinem Wagen ein Stück die Straße entlang, er lernte laufen. Wir mussten ihn laufen lassen, loslassen, wie unsere Mütter uns. Nun gehen wir bald mit unserem Enkel hier entlang, manchmal, wenn wir Oma und Opa sein werden. Neben uns laufen die Kinder mit dem Enkel und die Uroma ist auch noch dabei.“

Am Ende las ich noch einige Sätze aus dieser „Anstaltsgeschichte“ vor, aus den Anfängen natürlich. Ein kleiner Abschied von lieb gewonnenen Wahlbekanntschaften. Es ist das gleiche Los wie in schönen Urlauben, wir lernen nette Menschen kennen und trennen uns dann wieder. Unsere Wege kreuzen sich und laufen eine Weile nebeneinander, doch dann trennen sie sich wieder. Zurück bleiben Erinnerungen, neue Erkenntnisse und eben auch Lebensmut.
Einige unserer Bekannten auf Zeit versuchten sich im Malen, ihre ersten Gemälde waren entstanden, sie wussten nicht, dass sie es können. Nur geahnt haben sie es, ganz tief in sich.
Dienstags dann das „große Fressen.“ Es wurde keine römische Orgie, so dekadent sind wir nicht, doch lustig war es. Wir erinnerten uns an lustige Ereignisse in der Anstalt, die Adressen waren ausgetauscht und die große Traurigkeit des Abschiedes hoben wir uns für den Mittwoch auf. In der Nacht frischte der Wind wieder auf, Cora fuhr als Erste, gleich nach dem Frühstück, ich etwas später mit dem Bus. Ein letztes Mal die Mädels gesehen, die Anstalt in ihrer ganzen Backsteinpracht angeschaut und ein letztes Mal durch Nieblum. Die Fahrt über die See würde wohl nicht so schön sein, wie vor drei Wochen. Sonnendeck fiel in den Regen, dafür dann mal in den Salon. Die aufgewühlte, graue See versuchte unsere Fähre von Steuerbord her zu schaukeln, es gelang ihr nicht sehr gut. Das Wetter war aber eigentlich egal, genauso egal wie der nasse Abschiedsgruß der See am Fähranleger in Dagebüll. Tobe du Nordsee, wir wurden nicht seekrank. Nun gab es nur noch den langen Weg nach Haus, bis zur Mitternacht würde er noch dauern.
            Wir nahmen von der Insel gute Erinnerungen und nützliche Ratschläge mit. Erinnerungen an nette, kompetente Ärzte und Pfleger, Physiotherapeuten mit goldenen Händen und ein gutes Küchenpersonal. Alle dienstbaren Geister der Anstalt gaben sich Mühe und uns das schöne Gefühl, einmal nicht für alles Selbst sorgen zu müssen. Einmal nicht für jeden verfügbar sein zu müssen.
            Möglicherweise sahen uns ja andere Mitmenschen dort auch als schrullig an und lächelten über uns, sowie wir über einige lächelten. Seht es wie Heinz Rühmann in der berühmten „Feuerzangenbowle“, solch eine verrückte Anstalt und solch verrückte Patienten gibt es gar nicht. Alles etwas übertrieben, aber nichts gelogen. Es war schön und erholsam dort in der Rehaklinik Utersum auf Föhr.
Danke an alle Beteiligten und vielleicht sehen sich dieser und jene mal irgendwann und irgendwo wieder. Dann ertönt es vielleicht bei einem Kaffee: „Weist du noch, damals in der Anstalt in Utersum?“ Lachen wird es geben und Gäste schauen sich nach den albernen „Alten“ um.


Geschrieben vom April bis 26. Juni 2012

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