Neues aus der Anstalt
© Frank Handrek
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Liebe Leserin, lieber Leser, in dieser Geschichte werden
keine Geisteskranken oder Irren vorkommen. Sehr wohl aber einige schräge
Zeitgenossen und noch mehr liebenswerte Menschen. Diese Anstalt gibt es wirklich,
wenn sie heute auch Rehaklinik Utersum heißt, aber Anstalt ist lustiger, zu
mindestens für uns zeitweilige Bewohner.
So fuhr
ich dann Ende April dieses Jahres an das Meer, welches mal da ist und dann wohl
ganz weit im Westen an die Küste der neuen Welt schwappt. Nein, nicht an den
Atlantik, nur an die Nordsee, die grüne Insel Föhr. In Berlin musste ich aus
meinem Zug, der fuhr weiter an die Ostsee. Eine Stunde warten, Blick zum
Reichstag, zum Kanzleramt und zum Abgeordnetenhaus. Alles graue Wände, blanker
Beton und Glas, kein bischen Farbe.
Pünktlich
ging es weiter, Platz gefunden, hingesetzt und schon tönt es: „Die Fahrscheine
bitte!“ Was sein muss, muss sein. Ein englisch sprechendes Paar hört Musik,
jeder Seine. Er schien einige Jahre jünger zu sein als sie. Ein älterer Herr,
kurz vor oder über sechzig arbeitete mit seinem Laptop. Was es so alles jetzt
gibt im Zug? Sonst fahre ich immer im PKW.
In
Wittenberge an der Elbe das alte Gebäude von Veritas, sehr marode und traurig.
Kannte es noch aus besseren Tagen, damals als sie hier noch Nähmaschinen
bauten.
Doch dann der Bahnhof, alter preußischer Charme, kaum
verändert aber trotzdem nicht mehr in der Erinnerung. Früher musste ich ja
öfter von hier fahren, das letzte Mal allerdings 1977.
Fahrgäste
steigen aus, andere ein. „Hallo und guten Tag.“
„Guten Tag.“
„Entschuldigen Sie bitte, aber Sie sitzen auf meinem
Platz 106.“
„Ja, ich habe Platz 106 im Wagen 15.“
„Oh, dann bin ich wohl im falschen Wagen. Stört es Sie,
wenn ich trotzdem bleibe?“
Natürlich
störte es nicht, immerhin war genügend Platz hier. Sie wollte auch nach Föhr,
auch in die Anstalt. Schnell wurden wir bekannt, die restliche Fahrt verging
trotz langsamer Fahrt hinter Hamburg recht flott. Merkwürdige Wiesen zogen
vorbei, gewölbte Teilstücke, Wassergräben trennten sie und sorgten für
einigermaßen trockene Flächen. Schafe weideten zu Hunderten, vereinzelt auch
Rinder. Einzelne Gehöfte in der Landschaft, selten große Dörfer. In Niebüll
wurden unsere Wagen abgehängt, der Rest des Zuges fuhr über den Hindenburgdamm
nach Sylt. Wir kamen mit unseren Wagen an den Zug nach Dagebüll Mole. Nur noch
einige Kilometer gemütliche Eisenbahnfahrt durch nordfriesisches Land und da
war sie schon, die Nordsee. Zu unserer Begrüßung war sie sogar persönlich
anwesend. Nun zeigte sich, dass wir einige Leute mehr waren. Die Fähre lag
breit vor uns, ihr Bauch offen und die Autos standen schon auf dem Unterdeck.
Die Fahrkarte mussten wir einem Fährmann zeigen, dann mit dem Handgepäck einen
Platz auf dem Sonnendeck gesucht und los ging es. Von nun an gab es kein
zurück. Am Wyker Hafen wartete ein Fahrer der Anstalt mit einem Bus. Das Gepäck
verladen und schon ging es weiter. Zwölf Kilometer bis zur Anstalt. Am Empfang
holten uns die Schwestern ab, brachten uns auf die Zimmer, in welchem Hotel
gibt es dies noch? Die Koffer standen schon in den Zimmern, es klappte also
alles bisher sehr gut.
Etwas umsehen, einen Kaffee trinken und dann gab es
endlich Abendessen. Wir Neuen bekamen einen „Quarantänetisch.“ Ich hatte ja auf
etwas Warmes gehofft. Leider nichts zu machen, so wurde es eben ein reiner
Brottag. Doch es gibt Schlimmeres und dies kam auch bald. Noch nicht an diesem
Abend, aber am nächsten Tag.
Wer in
die Anstalt will, muss ja erst einmal den Gesundheitscheck überstehen. War sehr
ausführlich, aber jeder bestand ihn. Anschließend, kurz vor dem Mittagessen,
Führung durch die Klinik von einem reizenden Wesen in Schwesterntracht. Wir
sollten uns schließlich nicht dauernd verlaufen, kam aber trotzdem in den
ersten drei Tagen noch vor.
Doch
dann das erste Kontrastprogramm. Blondie trat auf, nicht etwa diese Sängerin
oder eine andere nette blonde Elfe. Blondie war eine ältere Dame, sehr schlank
schwebte sie in einem schwarzen Kleid auf Plateauschuhen an meinen Tisch. Das
Gesicht äußerst blass, die Lippen grellrot nachgezeichnet, so erschien der
verkniffene Mund nicht ganz so verkniffen.
Ich schätze sie auf Anfang bis Mitte sechzig. Sie bat
sich setzen zu dürfen und kaum saß sie, ging auch schon ihre Rede los: „Also
diese Diätassistentinnen und der Koch sind unfähig. Ich schrieb ihnen extra,
was ich essen darf und sie besorgen es mir nicht. Aber bei diesem Chefarzt auch
kein Wunder, er gefällt mir auch nicht.“
Sie schien sehr unzufrieden zu sein, immer vom Leben
enttäuscht und Freude war wohl nicht ihre schönste Erfahrung. Aus ihrer
weiteren Rede entnahm ich, dass sie nicht nur hier so sein konnte,
offensichtlich auch daheim. Später erfuhr ich dann, dass sie wohl doch mit
schweren Enttäuschungen in ihrem Leben nicht klarkam. Doch hatten wir nicht
alle schon Schweres erlebt? Zum Glück lernte ich inzwischen, Vergangenes ruhen
zu lassen.
Nur gut,
ich lernte sehr viel nettere Menschen kennen und da waren das Dorle aus
Schwaben, die Katja aus Niedersachsen, Angelina aus Berlin und natürlich Cora
aus Thüringen. Eben diese Cora aus dem Zug ab Wittenberge. Blondie verzog sich
an einen anderen Tisch, wir liehen uns am zweiten Tag Räder aus und begannen an
manchen Tagen die Insel zu erkunden.
-2-
Blondie hatte sich inzwischen an einen anderen Tisch
verzogen, war kein Thema zum Ärgern mehr. Ihr täglicher Schaulauf amüsierte
allerdings und ein wenig tat sie mir leid. Sie konnte nicht zu ihrem Alter
stehen. Ihre gesamte Erscheinung wollte ausdrücken, ich bin noch nicht so alt,
wie ich ausschaue und bitte habt mich lieb. Was mag in dieser Frau vorgegangen
sein, sie lässt mich in Gedanken nicht los und zwingt wohl immer wieder einmal
zum Nachdenken.
Statt
Blondie kam eine andere blonde Glucke, welche eifersüchtig auf ihre kleine
Schar aufpasste und so verhinderte, dass unsere Gruppe gemeinsam sitzen konnte.
Sie reisten zum Glück am nächsten Dienstag ab, wir hatten damit doch noch
unsere Chance. Es ist schon erstaunlich, wie Menschen sich verhalten können.
Immer schön reserviert, niemand darf in die Gruppe eindringen. Wir sind doch
noch nicht so weit von den Horden und Sippen entfernt, irgendwo in uns
schlummert nicht nur Huckleberry Finn, sondern auch der Neandertaler.
Aber ich
wollte ja von den Inselexkursionen erzählen und nicht von den Leuten. Wir
hatten unsere Räder, beste Hollandräder sowie eine Inselkarte, so ausgerüstet
ging es nach Nieblum. Hinzu auf der Traumstraße, herrliche Häuser, wenig
Verkehr und mit Rückenwind ging es zügig bis zur Windmühle Borgsum- West.
Natürlich musste ich sie fotografieren, aber was war das? Dorle, Angelina und
Cora waren weg, nicht zu sehen. Wo steckten sie wohl. Zum Glück warteten sie um
die Ecke hintern Häusern windgeschützt. Weiter ging es auf einer Nebenstraße.
Der Friesendom grüßte hinter Bäumen mit seinem hohen Turm. Aber er musste noch
etwas warten. Zunächst ging es zum „Alten friesischen Teehaus“, anschauen,
umsehen, riechen und staunen. Niedrige Stuben beherbergen unzählige Teesorten,
Kaffees aus aller Herren Länder, Seifen, Teezubehör und allerlei Schnickschnack.
Schnickschnack, den niemand wirklich notwendig benötigt, der aber Freude bringt
und die Seele wärmt. Für die wohlige Wärme sorgte ein Bullerjan in der Ecke
einer Stube. Türen führten in einen Garten, aber wir wollten Leute gucken. So
suchten wir uns einen Tee aus, lernten dabei Peter kennen, brühten den Tee mit
Wasser aus dem Samowar auf und setzten uns an die Straße. Rustikale Möbel,
eiserne Stühle, aus Baumstämmen gesägte Hocker und Tische boten bequemen
Aufenthalt. Diese eine Tasse Tee bekommt dort jeder Gast kostenlos, wie wir
fanden ein sehr netter Service des Hauses.
Auf der
anderen Seite der alten Kopfsteinpflasterstraße plötzlich großes Gekreische,
Zetern und Schackern. Keine Angst, es war nicht Blondie, zwei Dohlenpärchen
stritten sich um die Nisthöhle in einer alten Linde oder ging es um die
Dohlenfrau? Schwupps, war eine Dohle in der Höhle, die andere vertrieb die
Störenfriede. Doch noch gaben die neidischen Nachbarn nicht auf. Es bedurfte
schon noch einiger energischer Flügelschläge, kräftiger Schnabelhiebe und
lautstarkem Gezeter. Dann war der Friede hergestellt, es kehrte Ruhe bei den
Dohlen ein und sicher war das eine Hähnchen für sein Hühnchen deeer! Held.
Wir
tranken in Ruhe unseren Tee, köstlich solch ein frischer Trank. Noch schnell
etwas Tee erworben, damit hatte für mich das „Elend“ mit dem Anstaltstee ein
Ende und weiter ging es zum Friesendom. Eine eher schlichte Kirche, sowohl
außen als auch innen. Hoher Turm und weites Kirchenschiff, Gestühl für die
Wohlhabenden, Bänke für die einfachen Leute, geschnitzte Kanzel und rechter
Hand Richtung Altar ein Seitenschiff. In diesem schwebte in einem Meer aus
Licht ein Segelschiff. Eine Nische für die Seefahrer, die Walfänger?
Auf dem
Kirchhof ruhen sie alle aus, sind im Tode gleich und doch unterschiedlich. Die
Grabsteine erzählen davon. Wer lebte wie lange, mit wem waren die Verstorbenen
verheiratet, was war ihr Beruf und wie lang weilte dieser Mensch hier auf der
Erde. Nicht wie heute von – bis, nein er lebte 80 Jahr, 4 Monate und 17 Tage.
Auf der Rückseite der Grabsteine, im Kopfteil sieht der Besucher Blumen. Tulpen
für die Männer und Jungen, Margeriten für die Frauen und Mädchen. Zwei Blüten
für die Eheleute ganz oben, links der Mann und rechts die Frau. Darunter die
Blüten für die Kinder. Geknickte Blüten erzählen vom Leid der Eltern beim Tod
eines Kindes. Nachdenklich betrachteten wir diese Steine. Viele Menschen wurden
recht alt, einige starben jung und etliche völlig unnötig. Da sind dann die
Gedenksteine für die Söhne. Nicht in einem Sturm beim Fischen starben sie,
nein, voller Stolz wird erzählt, auf dem Feld der Ehre fiel unser tapferer Sohn
als Held. Für wessen Ehre starben sie? Viele, zu viele folgten nur eine
Generation später nach, sie hatten keine solchen Steine mehr.Diese Steine
erzählen aber nichts über die Tränen der Mütter, der Frauen und der Kinder. Da
schweigen sie sich aus.
Wir
verließen diesen Ort der Ruhe und des Gedenkens, kehrten in das Leben zurück
und in ein Café ein. Bei Waffeln und Kaffee lernten wir uns besser kennen,
erzählten etwas von uns. Dorle wollte einen weiteren Weg zur Anstalt erkunden,
wir anderen fuhren gegen den Wind der Anstalt entgegen, immer am Meer entlang.
Am Gotingkliff hielten wir noch einmal an. Das Nordmeer gab sich gerade die
Ehre und schlug mit sanften Wellen an den Strand. Mir kam das alte Lied in den
Sinn. „Wo die Nordseewellen trekken an den Strand …“
Nur gelber Ginster blühte noch nicht. Doch etwas
beeindruckte uns, ein altes Paar. Sie ging in der sanften Dünung spazieren, bis
zum Po reichte ihr das kalte Wasser. Er machte nackt seine Yogaübungen. Völlig
ruhig, ganz gleichmäßig bewegte er sich. Mit durchgedrückten Knien berührten
seine Handflächen den Sand des Strandes, doppelt geerdet. Diese Zwei waren
zufrieden mit sich und vielleicht liegt darin das Geheimnis vom hohen Alter der
Einheimischen auf dem Kirchhof und der Insel.
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Katja hatte nun auch ein Rad. Nach Sylt ging es nicht aus
technischen Gründen, wir waren etwas enttäuscht, doch wenn nicht Sylt, dann
eben nach Wyk. Natürlich nicht mit dem Bus, wir hatten ja Räder. Sonntag nach
dem Frühstück ging es los. Wie meistens beim Radfahren natürlich gegen den
Wind, der auch noch immer heftiger wurde. Doch nach über zwei harten Stunden
waren wir angekommen. Durch Felder, übern Deich und an einem Naturlehrpfad
entlang ging es in den Ort. Viele Menschen hatten wohl die gleiche Idee,
Geschäfte und Gasthäuser waren voll. Ende April liefen alle Menschen mit warmen
Jacken, Mützen und Schals. Unglaublich dieser kalte Ostwind, er schaffte sogar
das Wasser für die Fähren weg. Nichts ging mehr, wir waren Gefangene auf der
Insel, zu mindestens für einige Stunden.
Fisch
gab es jedoch, das Gasthaus „Bi de Pump“ hatte genügend für unsere hungrigen
Mägen eingelagert. Ein sehr gemütliches Haus, nette Wirtsleute und vor allem
eine hervorragende Küche. Wie immer, wenn das Angebot groß ist, fiel die
Auswahl schwer. Was isst man nun? Scholle, Hering, Fischplatte oder doch lieber
Landkost, Roulade mit Rotkohl und Klößen? Schwein kann ich daheim essen, Rind
auch, also Fisch. Wäre ja auch Schwachsinn, hier hatte der Fisch sogar noch
leuchtende Augen, wenn er in die Pfanne kommt, so frisch war er. Erstmals sah
ich auch, was mein ehemaliger friesischer Chef meinte mit „Butter bei die
Fische tun“. Also mit Diät hat dieser Brauch echt nichts zu tun.
Übrigens kann ich auch die Hühnersuppe dort empfehlen,
das Huhn wurde nicht nur durch das heiße Wasser gezogen. Fleisch, Fett und
Gemüse waren reichlich in der heißen Suppe.
Der
anschließende Gang über den „Fischmarkt“ zeigte eigentlich eine Irreführung des
gemeinen Urlaubervolkes. Wenn wir auch in der Anstalt waren, so konnten wir
doch Fisch vom Käse unterscheiden. Vielleicht wäre Sonntagsmarkt treffender?
Bei dem immer heftigeren Wind hatten wir echt keine Lust mehr am Strand
sandgestrahlt zu werden. Wir holten unsere Räder und fuhren, diesmal mit
Rückenwind, zurück in die Anstalt. In Nieblum noch kurz vom rechten Weg
abgebogen und Katja das „Alte friesische Teehaus“ gezeigt. Die Dohlen waren
ruhig, sicher hatten sie die Streitigkeiten beigelegt.
Katja
kam mit einem undurchsichtigen Gesichtsausdruck aus dem Haus. „Wenn man sucht,
wird man auch finden.“ Es ist eben ein Kramladen, für Jeden etwas und in dem
scheinbaren Chaos steckt ein liebevolles System. Nach einer weiteren guten
Stunde Fahrt kamen die Dächer der Anstalt über den Wipfeln der Kiefern in
Sicht. Das Ende eines anstrengenden Ausfluges nahte, doch nicht das Ende des
Tages. Nach dem Abendessen ging es zum Schwusical. Hat nichts mit Schwulen und
Lesben zu tun, es ist einfach eine Wortschöpfung aus Schauspiel und Musical.
Wir
lachten, wie es viel zu selten geschieht, der Saal bebte. Die Geschichte
spielte auf dem Hamburger Fischmarkt. Der arme Obdachlose mit seiner
obdachlosen Freundin, eine Dame der „besseren Gesellschaft“ mokierte sich über
das merkwürdige Paar. Sie rief den Schutzmann, diesen „Abschaum“ der
Gesellschaft vom Markt zu entfernen, nichts ahnend, dass sie den Schutzmann
viel eher und öfter benötigen wird, als ihr im Moment noch lieb war.
Raffgier, Arroganz und geringe Menschenkenntnis brachten
ihr erheblichen Verlust. Die Marktweiber kreischten und keiften sich an, der
typische Marktaufseher suchte seinen Vorteil mit versteckten Drohungen und
Erpressungen. Zwei alte, unzufriedene Damen mäkelten an der Frische des
Fisches. Früher war eben alles besser. Und dann die Touris aus Gelsenkirchen,
natürlich im Schalketrikot der Papa. Papa scharf auf die Mädels vom
horizontalen Gewerbe, Mama bedacht auf die Treue des Ehemannes und Sohn Amadeus
sollte nach dem Willen von Mama und Papa endlich ein Mann werden. Also er
sollte erfahren, was Frau und Mann so tun müssen, außer reden, damit in Zukunft
auch noch Schauspieler und Zuschauer zueinanderfinden. Papa landete natürlich nicht
bei den Schwalben, mal rief Mama, mal war das Portemonnaie weg, dann klingelt
das Handy.
Ob es wohl eine Studie darüber gibt, wie hoch der Anteil
der Handys am Bevölkerungsrückgang in diesem Land ist?
Amadeus fand jedenfalls sein Mädchen, völlig anders als
von seinen Eltern gedacht. Er war der Einzige, welcher die Ertrinkende aus der
Elbe rettete. Der Depp und der Penner waren die menschlichsten Wesen an diesem
Abend. Der Pfaff redete nur, die anderen Leute sahen weg, nur nicht einmischen,
es könnte ja Ärger geben. Trotzdem waren am Ende des Stückes alle irgendwie
etwas menschlicher und alles wurde gut.
Ein
schöner Tag ging zu Ende, der Wind schlief ein, der Fasan mit seiner rostigen
Stimme rief seine Hühnchen zur Nacht. So gingen wir mit einem Lächeln ebenfalls
schlafen, nicht ahnend, was die neue Woche bringen mochte.
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Montag, Chefvisite, alles hofft natürlich auf gute
Befunde. Manche hoffen auf Verlängerung der Reha. Für uns beginnt nun das
richtige Rehaleben, die Tage der Eingewöhnung sind vorbei. Vor der Visite noch
einige Untersuchungen in den Funktionslaboren, Frühstück und eine gewisse
Unruhe unter den Rehabilitanden. Das geordnete Chaos eines Ameisenhaufens eben.
Vor dem Arztzimmer eine Wartegemeinschaft, irgendetwas klappte nicht.
Vielleicht war ja jemand doch etwas schlimmer krank als wir, also Geduld und
Zeit hatten wir genügend. Doch kein schlimmer Fall, Blondie hielt den Doktor
auf und zeternd kam sie aus dem Zimmer, wie schon in den letzten Tagen
unzufrieden. Ob sie sich noch beruhigen würde?
Jeder bekam seine Diagnose, mal etwas besser, mal etwas
weniger gut. Zum Glück hatten wir uns in kleinen Gruppen gefunden, es half
vielleicht manchem über die ersten Stunden hinweg, etwas Trost brachte schon
das Dabeiseindürfen in einer Gruppe.
Der
Montag verging mit Sport, zwei Vorträgen des Chefarztes nach dem Mittagessen
und einer netten Radfahrt am Deich entlang nach Dunsum. Auf dem Deich weideten
Schafe in abgezäunten Bereichen. Sie traten das Bauwerk ständig fest, bekamen
nichts als das Gras und ständig frische Luft für diese Deichpflege. Nicht einen
Euro verdienten diese Schafe. Doch selbst schuld, sollen sie eine Personalrat
gründen, ihre Rechte einfordern. Für religiöse Menschen ist das Lamm ja das
Opfertier schlechthin, für mich das Sinnbild unserer Gesellschaft. Duldsam
warten wir, ab was geschieht, lassen uns in Grenzen zwängen und harren aus. Wir
sind die Schafe für die da oben und wenn nötig geben wir auch noch unser warmes
Fell, damit die da oben weich fallen. Zwar stehen wir dann nackt im Regen, aber
es wird schon wieder besser werden. Schon komisch, welche Gedanken einem so
kommen können, wenn wir uns einmal die Zeit zum Nachdenken nehmen.
Endlich
am „Wattenläufer“ angekommen, die letzte Gaststätte vor Amrum. Kein Kunststück,
hinterm Deich geht der Wattweg von Föhr nach Amrum. Der Kaffee war echt gut,
doch der Preis zweier Pötte überstieg den Preis eines Pfundes selbst bei Edeka.
Aber die Menschen müssen hier eben im Frühling, Sommer und zu Beginn des
Herbstes ihr Geld verdienen. Im Winter kommt kaum ein Wanderer vorbei und ins
Watt geht es schon gar nicht.
Im moderaten Tempo fuhr unsere kleine Gruppe zurück zur
Anstalt. Den Schafen auf dem Deich waren wir in diesen Tagen nicht unähnlich.
Unser Tag wurde von den Essenszeiten und den Behandlungen strukturiert. Dazwischen
Streicheleinheiten, manche durch Therapeuten im wahrsten Sinne des Wortes,
andere Streicheleinheiten mehr für die Seele. Das mit der Seele ist wohl immer
wichtig, egal ob jemand gesund oder krank ist. Für uns war es wohl sehr
wichtig. Einige gingen zum Tanz, eigentlich Gymnastik nach Noten und zwölf von
uns lernten heute Frau Dr. Fuchs kennen. Ich verwende dies eine Mal bewusst den
richtigen Namen. Sie gab uns das Gefühl etwas Wichtiges zu tun, sie lud zur
Schreibwerkstatt ein. Jeder bekam ein Notizbuch DIN A 4, jeder bekam auch
einige Blätter einer Hundsrose und die eigentliche Aufgabe bestand darin, in
fünf Minuten seine Gedanken zu eben diesem Blatt und dem kleinen Wort „GRÜN“
aufzuschreiben. So stand auf einem leeren Blatt nur das Wort grün, die Finger
tasten über die Rosenblätter, fühlten die weiche und doch irgendwie robuste
Struktur der Blätter. Gedanken kreisten, ordneten sich zu Sätzen und auf das
Kommando von Frau Fuchs schrieben zwölf Menschen ihr Gedanken zu dem Wort grün
auf. Wie zu längst vergangener Zeit in der Schule neigten sich ergraute Köpfe
über die leere Seite in dem Buch und in der Stille hörte man nur das Geräusch
der Kugelschreiber auf dem Papier. Die Stifte setzten Zeichen, verbanden sie zu
Worten, Worte wurden zu Sätzen. Fünf Minuten können eine Ewigkeit sein, aber
auch eine sehr kurze Zeit. Hier waren die fünf Minuten sehr kurz. Die „alten
Hasen“ lasen zuerst ihre Gedanken vor, dann trauten wir „Neuen“ uns auch.
Erstaunlich, wie viele unterschiedliche Formen des Ausdrucks in solch einer
kleinen Runde herrschten. Die Vielfalt der Gedanken, der Gefühle und der
Vortragsart ließen Talente erahnen, gaben uns Kraft. Eines wurde wohl allen
klar, wir müssen diese Kraft der schöpferischen Kreativität mit nehmen in
unseren Alltag. Auch wenn es nur uns hilft, am Leben zu bleiben, Kraft zu
finden oder dieses Gestalten mit Worten als Ventil für unseren Schmerz, die
manchmal quälenden Gedanken und natürlich für unsere FREUDE am Leben zu
nutzen.
Doch die
Stunde war noch nicht am Ende, wir lernten Haikus kennen, kleine Dreizeiler,
ungereimt doch nach strenger Regel. Erste Zeile fünf Silben, zweite Zeile
sieben Silben, dritte Zeile wieder fünf. Das Ganze im Hier und heute, auf mich
bezogen, Reflexion meiner Gedanken im minimalistischem Stil. Da saßen wir in
„Ehren ergrauten Menschen“ zum Teil noch mit den Regeln der alten
Rechtschreibung belastet und trennten Silben. Manche nennen es Silbenklatschen.
Wegstreichen, in die nächste Zeile nehmen und solange fummeln, bis es passt.
Wir quälten die deutsche Sprache wider jede Vernunft, aber am Ende kamen
sinnvolle Dreizeiler dabei heraus.
Natürlich
bekamen wir wieder ein Beispiel vorgelesen, ich zitiere es einmal hier:
„Die Hagebutte
Dort am
raubereiften Zweig
Träumt vom Rose
sein“
Es kommt dann so etwas raus dabei: „Die Fahrt zum Deich
raus
Dort stehen zwanzig Schafe
Ich wollte frei sein“
Und am Ende bekamen wir ein Haiku einer ehemaligen
Patientin der Rehaklinik vorgelesen:
„Skrupellos will ich
Von nun an mich
selbst lieben
Verwegenes Ich“
Sicher sind dies keine Meisterwerke geworden, doch sie
drückten unsere Gedanken aus, es waren von uns geschaffene Geschöpfe und diese
Stunde gab uns etwas Kraft für die Woche.
Morgen ist Feiertag, die Woche wird angefüllt sein mit
Behandlungen aber auch Freizeit.
Nun mussten aber unsere Körper und der Geist erst einmal
ruhen, auch dies ist Therapie.
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Am Feiertag, dem Tag der Arbeit, sollten wir nun wirklich
nicht faulenzen. So mussten wir alle zu irgendeiner Anwendung. Nichts sehr
Aufregendes, doch die Kette der Behandlungen durfte nicht unterbrochen werden.
Trotzdem verbrachten wir den Tag mit einer an Faulheit grenzenden Trägheit.
Einfach mal toll, so in der Sonne sitzen, den Gedanken nachhängend und durch
den Park schlendern. Nach dem Essen wieder auf der Terrasse sitzen, wir
genossen einfach den Sonnenschein und die relative Windstille. Der Himmel
blaute wie selten, keine Wolke. Nur Licht, seidenweiche Luft und Wärme.
Eine
junge Frau, wir kannten sie alle vom Sehen, setzte sich zu uns. Bei ihr kamen
uns unsere Beschwerden sehr klein vor. Auch wenn sie eher zerbrechlich wirkte,
so ist sie doch eine Riesin. Ihr Mut und ihr Wille zum Leben mussten uns
einfach berühren und vor allem anspornen. Mitleid brauchte sie nicht, wollte
sie auch nicht, aber Anerkennung verdiente sie tausendfach. Glücklich, mit
einem Strahlen in den Augen, erzählte sie von ihrem vier Kilometer langen
Marsch. Für uns ein Klacks, für sie war es ein Marathon. Glückwunsch junge
Dame. Noch eine Nachricht brachte sie, am Abend würde es im Vortragssaal ein
kleines Konzert geben. Von Patienten für Patienten organisiert und
durchgeführt. Ein Opernsänger, eine Pianistin und eine junge Sängerin gaben
Proben ihres Könnens. Doch wie ersetzt ein Opernsänger ein Orchester? Ganz einfach
mit einem CD-Player. Nur schnell musste er sein, die Musik finden, starten und
in den Saal gehen. Dann die Lieder singen. Und schon wollte der Saal mitsingen,
wie ist es doch leicht, die Menschen zum Mitmachen zu bewegen. Selbst
klassische Opernklänge ermunterten mindestens zum Mitsummen.
Nach
einigen Arien und Liedern ging es auf der Bühne weiter, der Flügel erklang, die
Melodien entschwanden durch den Raum und mit ihnen wanderten Gedanken der
andächtig lauschenden Zuhörer nach draußen. Sie eilten nach Haus oder es kamen
Erinnerungen an vergangene Konzerte, welche man schon lange nicht mehr
besuchte, weil keine Zeit war.
War wirklich keine Zeit, oder nahmen wir sie uns nicht.
Zeit ist immer gleich viel vorhanden.
Musik kann man heute überall hören, sogar beim Laufen
oder Radfahren.
Zum Abschluss dieses kleinen Konzertes sangen dann doch
noch alle Gäste mit den Künstlern ein gemeinsames Lied. Was machte man aber
nach solch einem Abend?
Wir
gingen wieder auf die Terrasse, das warme Leuchten der Hainbuchen, der
Rhododendren und der weißen Birken fotografieren. Selbst die dunklen Nadeln der
Kiefern begannen zu leuchten. Gegen 21 Uhr musste ich an den Strand, der
herrliche Sonnenuntergang lockte. Der orange Ball der Sonne sandte eine breite
Straße aus Licht über das leicht gekräuselte Meer. Der gesamte Himmel leuchtete
in vielen Rottönen und darüber zeigten sich türkise Farbtöne langsam in ein
Blau übergehend. Zunächst ein helles Blau doch je höher das Auge schaute wurde
es immer dunkler. Das dunkle Blau alter Kaisermäntel schauten sich unsere
Vorfahren sicher vom Himmel ab. Die Sonne stieg unbeirrt von ihrer
Himmelsleiter in das Meer. Etwas nördlich der Südspitze von Sylt tauchte der
rote Glutball in das Meer. Über ihr erstrahlte noch ein letztes Mal eine graue
Wolkenbank. Rosa Kissen schwebten über der badenden Sonne.
Es wurde
kühl, wenn das Café noch aufhätte, könnten wir noch sitzen und schwatzen, so
war es besser, im Bett noch einige Seiten zu lesen. Den Rest der Woche
verbrachten wir mit Anwendungen, kleineren Radtouren und Spaziergängen.
-6-
Es kam der Donnerstag, relativ windstill und sonnig, also
bestes Inselwetter. Nachmittags war etwas mehr Zeit und Cora kam mit mir mit
auf eine kleine Radtour. Gemütlich fuhren wir wieder am Deich entlang, die Schafe
erledigten ihre Deichsicherungsarbeiten und wir freuten uns auf einen Kaffee
beim „Wattenläufer.“Es saßen auch einige ältere Herren in ihren bequemen
Plastiksesseln vor dem letzten Restaurant vor Amrum, doch lächelnd erklärten
sie uns: „Heute ist hier Ruhetag, kommt doch einfach morgen wieder.“ Was soll
man tun, also rauf auf das Rad und weiter fahren. Nach Dunsum Ausbau 23 zum
„Milk and more“, einem Bauernhof mit Hofladen und Café. Da gibt es bestimmt
einen guten Kaffee, aber nee, die hatten auch Ruhetag. Manchmal spielt das
Schicksal aber böse mit uns. Haben denn hier alle am gleichen Tag geschlossen?
Wir nahmen es mit einer gewissen Gelassenheit, ändern konnten wir sowieso
nichts und fuhren eben in die Anstalt zurück. Oh welch ein Glück, der Pächter
der Cafeteria hatte sich mal entschlossen, seinem Geschäft nach zu gehen. Er
hatte offen und sogar Kaffee. War bei diesem Mann nicht so selbstverständlich
und es wurde zum Ende hin auch noch merkwürdiger mit ihm. Für uns wird es immer
ein Geheimnis bleiben, wovon er eigentlich lebte, von dieser Arbeit jedenfalls
nicht. Der Nachmittag war gerettet, es konnte das Abendessen kommen und dann
kam da noch Qigong. Aus reiner Neugier probierte ich es aus und weil Katja mich
überredete. Nun gut, wenn ein Bär tanzen lernen konnte, konnte ich es zumindest
mal versuchen. Dieses langsame Bewegen, fast in Zeitlupe, stehen auf einem
Bein, Wellen schieben oder Wolken ziehen brachte mich zwar zum Schwitzen, doch
es überzeugte nicht. Doch man kann nicht zu allem Zugang finden.
Ich hakte diesen Abend als Erfahrung ab, las noch einige
Seiten und dann war auch schon Zeit zum Schlafen.
Der
nächste Tag begann wieder recht warm, mal nicht kurz über null Grad, sonnig und
relativ windstill. Zwischen den Anwendungen mal wieder runter an den Strand. Es
herrschte Ebbe. Der Meeresboden ist erstaunlich fest, später erfuhren wir, hier
ist Sandwatt, die Ribbeln zeigen den Wellenschlag an und die Wattwürmer bohren
Löcher wie bei uns die Regenwürmer. Neben diesen Löchern liegen so kleine Häufchen,
die Ausscheidungen der Würmer, reinster Nordseesand. Sehen bestimmt recht
merkwürdig aus, diese Tiere. Doch dann erst die Muscheln, braun, creme, rot und
grauschwarz die Miesmuscheln. Austern lagen da halb im Sand verbuddelt, oben
auf siedelten Seepocken. In diesen Pocken wieder lebten kleine Krabben. Am
Strand lagen auch die Schalen gehäuteter Krabben und der Laich der
Wellhornschnecke. Die Steinbuhnen wurden vom Blasentang und Seepocken
überwuchert.
Das alles konnten wir sehen, weil das Nordmeer gerade mal
weit im Westen, am Ufer der neuen Welt, nachsehen war, ob diese merkwürdigen
Zweibeiner immer noch da siedelten. Die sind genauso hartnäckig wie die
Zweibeiner auf dem alten Kontinent. Sie bauen auch Deiche gegen die Flut. Kommt
das Meer doch mal zu weit aufs Land, bauen sie ihre Dämme eben höher. Dann
müssen sie zwar auf den Damm und durch Lücken, wenn sie das Meer sehen wollen,
aber trotz aller Sehnsucht, wollen sie es nicht ständig zu Gast haben. Ein
Blick zur Uhr, schon endeten die philosophischen Gedanken über die Menschen und
das Meer.
Nordic Walking lag an, 450 m eine Runde, immer schön
im Kreis und mindestens sechs Runden. Aufwärmen, Dehnen und gehen in einem
Tempo, bei welchem sich die lieben Patienten auch noch unterhalten können, ohne
Japsen versteht sich. Das machte locker mal 2,7 km zu fuß, eine Strecke,
welche manche unserer Mitmenschen schon mal mit dem Auto fahren.
Am
Nachmittag besuchten wir wieder unseren „Meister Nadelöhr“, nicht den
Schneider. Er war der Psychologe, welcher uns das autogene Training beibrachte.
Er sah aber aus wie Meister Nadelöhr, sehr hoch gewachsen, ganz dünn und sein
Kinn zierte eben der typische „Meisternadelöhrbart“. So ein kleiner, spitzer
Bart eben. Auf seinem Stuhl saß er immer etwas unruhig, leicht nach vorn
gebeugt, die dünnen Arme auf seine dünnen Oberschenkel gelegt. Er erklärte in
einer zweiten Lektion die weiteren Geheimnisse des autogenen Trainings. Katja
fragte ihn schon beim ersten Mal, ob er etwas leiser reden könnte und wenn er
„schwer“ sagte, dröhnte und zischte immer das „w“ in unseren Ohren. Alle waren
sofort aus dem Trance erwacht. Mich erinnerte er noch an den Wolf aus den
sieben Geißlein, die Zicklein erkannten ihn auch an der Stimme, so würde ich
ihn wohl auch jetzt noch an seiner Stimme erkennen. Wir suchten wieder unsere
Ruheplätze auf, entspannten uns und er sprach wirklich leiser und angenehmer.
Die Meisten von uns schafften es wirklich, sich in den Zustand der Entspannung
zu versetzen. Doch wie immer und überall gab es auch in dieser Gruppe eine
Dame, welche sehr pflichtbewusst war. Nicht Blondie, diese Dame hier war wohl
aus Süddeutschland, zumindest sprach sie den Dialekt der Schwaben. Sie holte
ihren Block und den Stift aus dem Täschchen, legte ein Knie über das andere und
begann mit zu schreiben. Dabei hatte der Psychologe uns doch einen Plan
gegeben, es stand alles darauf. War sie die Protokollantin? Merkwürdige
Zeitgenossen gibt es schon, sie hinterfragte auch bei jedem Vortag alles bis
ins kleinste Detail, doch was nützte es mir oder ihr, sich mit Kleinigkeiten zu
belasten? Diese Frage wird unbeantwortet bleiben.
Wir
hatten danach frei, rauf auf die Räder und fort aus der Anstalt. Über
Süderende, Altersum, Midlum und Borgsum ging es zurück nach Utersum in die
Anstalt. Glaubt nun bloß nicht, dass wir stur die Straßen vermaßen.
Zwischendurch ging es noch in die „Alte Schule“ in Midlum. Richtig gelesen,
alte Schule, eine echte Dorfschule mit einer richtigen Schulbank, einer echten
Schultafel und natürlich sehr netten Lehrern. An richtigen Tischen wurden die
Pausenkuchen mit aufmunternden Getränken serviert. Da Pause war, mussten wir
auch nicht lernen, aber wir konnten lesen. In der „Hausordnung“ wurden die
Gäste gebeten, Herkules und seine Püppies nicht zu füttern, da sie sonst platzen
könnten. Herkules und seine Püppies sind weiße Hühner, vor dem Betreten der
Schule wird der Gast schon einmal gewarnt, allerdings davor, dass man nicht auf
die Hühnchen tritt. Sehenswert war in jedem Fall der Garten der alten Schule.
Mancher von uns kennt ja noch die Schulgärten, alles in preußischer Ordnung,
gerade Beete, kein Unkraut und nur nützliche Sachen. In diesem Schulgarten
wandelten wir auf verschlungenen Wegen, vorbei an kleinen Tischen in
romantischen Ecken.
Auf den Tischen lagen Steine mit der Platzbezeichnung,
eine Orientierung für die Bedienung.
Auf den Beeten blühten Tulpen, Pfingstrosen schauten aus
dem Kraut, Giersch, Löwenzahn und allerlei andere Wildkräuter bildeten eine
vielfältige und duftende Mischung. Natur ist auch in einem Hausgarten schön.
-7-
Bis Samstag vergingen die restlichen Wochentage mit dem
üblichen Anstaltstrott, Essen, Behandlungen, Spaziergänge im Park und am
Strand, Sport in seinen unterschiedlichsten Formen und manchmal war er auch
freiwillig. Aber dann, am Samstag nach dem obligatorischen Eintopfessen auf die
Räder und nach Utersum zum Frühlingsfest. Der Zeit und der Bequemlichkeit wegen
wieder über die Abkürzung Tribergem. Eine kleine Anmerkung, friesische Sprache
ist gar nicht so schwer. Wer etwas plattdeutsch versteht, also schon einmal an
der Ostsee war, der kommt hier auch hinter die Bezeichnungen. Ansonsten ist es
auch hilfreich, sich die Gegend anzuschauen. Dieses Tribergem ist eine
Übertreibung „Drei Berge“ für drei Grabhügel aus der Wikingerzeit. So gibt es
hier etliche Bezeichnungen, welche sich auf Flurnamen und Himmelsrichtungen
beziehen. Nur aufpassen muss der Gast eben und wer fragt, dem geben sie auch
eine Antwort, die eher wortkargen Friesen.
Im
Gemeindehaus boten die Dorffrauen selbst gefertigten Schmuck,
Gebrauchsgegenstände wie Handtücher, Seifensäckchen, Socken und allerlei
Hausmittelchen an. Einer älteren Frau schauten wir zu, wie sie aus Muscheln,
kleinsten Glasperlen und etwas Kleber filigranen Schmuck bastelte. Die gleichen
Hände, die im Garten buddelten, die Kühe melkten oder andere schwere Arbeit
verrichteten, fertigten hier ganz ruhig diesen Schmuck. Das Leben lehrte sie
die Ruhe.
Angelina
kam selbstverständlich nicht an den glitzernden Ohrhängern vorbei, welche Frau
kann schon Schmuck widerstehen? Erstaunlich war allerdings, wie rasch sie sich
entscheiden konnte. Cora nahm sich das Gefühl des Sturmpeelings vom ersten
Sonntag in Wyk mit heim, sie kaufte Peelingseife mit feinstem Nordseesand,
natürlich hier auf der Insel gesiedete Seife. Essen gab es zwar auch auf dem
Dorffest, aber noch hielt die Linsensuppe vor, so ließen wir die Paella stehen,
auch wenn sie so verführerisch duftete und besuchten den Keramikstand. „Kleiner
Laden Miez und Maunz“, Moorhoftöpferei, präsentierte seine lustigen Tassen und
Becher. Wer den Boden sehen konnte, las „Ebbe“ und bei Flut war der Becher eben
voll. Nette Idee, vor allem brauchte man nur den Becher zeigen und man bekam
nach geschenkt. Natürlich gab es auch die üblichen Teller, Butterdosen und
Sparschweine bei den Töpfern. Doch am schönsten waren die Glocken aus Keramik.
Unterschiedlichste Glocken fertigten sie auf Wunsch an, so die Geburtsglocke.
Sie wird bei Geburt eines Kindes gefertigt mit sechs Wolken. Nicht als
Bedrohung für das Baby, nein, auf den Wölkchen stehen der Name, der Geburtstag,
die Zeit, das Gewicht, das Jahr und die Größe bei der Geburt. Die Wölkchen
klingeln leise im Wind und sicher beruhigen sie das Baby. Diese Glocken konnte
man auch als Taufglocken oder Großelternglocken bestellen. Doch manchmal werden
Kinder ja auch noch in der Ehe geboren und so schenkt man den Eltern eine
Hochzeitsglocke. Diese kann zur Familienglocke werden. Sollte sie allen Stürmen
des Lebens standhalten, dann gibt es nach fünfundzwanzig Jahren die Nächste und
so kann es weiter gehen zur Goldenen Hochzeit, der Diamantenen oder der
Rubinhochzeit und was es sonst noch alles an Hochzeitstagen gibt. Keine Angst,
man benötigt keinen eigenen Glockenturm, nur einige Haken in der Decke. Fliegen
doch mal die Türen in der Ehe, dann klingeln leise die Glocken im Luftzug und
berührt dieses Klingeln noch die Herzen, wird bestimmt alles wieder gut. Eine
Umarmung, ein leiser Kuss und ein Lächeln lassen den Zorn vergehen und die
Wolken verfliegen. Ihr glaubt es nicht? Versucht es doch einmal mit einer
Glocke.
Wir
zogen weiter durch die Wiesen nach Süderende zur Kirche. Wieder ging es zum
Kirchhof. Hier sind die buntesten Grabsteine. Richtig bunt sind sie ja nicht,
auf weißem Grund erzählen sie die Geschichte der Menschen und von ihrer
Hoffnung auf die Wiederauferstehung nach kurzer Ruhe. Blaue Ränder zieren die
Grabsteine und an grünen Stängeln sitzen die Blüten für die Mädchen und Frauen
und die Jungen und Männer.
Vielleicht stehen die Farben Blau und Weiß für das Meer,
blau im Sonnenschein leuchtend und mit weißen Schaumkronen dahin ziehend. Oder
sie stehen für den weiten Himmel über der Insel. Hellblau mit weißen Wolken
überspannt er die grüne Insel. Wir konnten es nicht ergründen. Die Kirche
ähnelt dem Friesendom in Nieblum, nicht ganz so groß, doch im Baustil gleich.
Auf diesem Kirchhof ruhen auch die Verstorbenen der Lungenklinik Utersum, nicht
namenlos ruhen sie alle nebeneinander. Eine ältere Frau konnte sich noch daran
erinnern, wie regelmäßig in den ersten Jahren nach dem Krieg die Verstorbenen
hier beigesetzt wurden.
Zwischen
hohen Büschen steht ein besonderer Grabstein. Das Denkmal des „Glücklichen Matthias“.
Er war einer der erfolgreichsten Walfänger und schon mit zwanzig Jahren
Kommandeur eines Walfangschiffes. Diesen Beruf hatte er wohl fünfzig Jahre inne,
und weil er so erfolgreich war, stifteten er und sein Bruder der Kirche in
Süderende zwei Messingleuchter. Sie sind heute noch dort zu sehen und werden
benutzt. Sein Grabstein, übermannshoch, ist in Latein beschriftet und erzählt
sicher von seinem Leben.
Heute würden ihn die Anhänger von Greenpeace und
ähnlichen Organisationen jagen. Doch wer gibt uns das Recht, über ihn zu
richten, wo wir doch gerade selbst die Welt drangsalieren und kaputtmachen?
Nachdenklich schwangen wir uns auf die Räder. Nur kurz war der Weg, es ging
nach Oldsum, nur einen Kilometer. Ziel war „Stelly`s Huus“, eine Töpferei mit
Café und kleinem Museum. Ein gemütlicher Ort zum Verweilen mit gutem Kaffee und
feinstem Kuchen, einer netten Ausstellung von alten Gebrauchsgegenständen und
neuem Steingut. In diesem Café kamen Dorle und Katja wieder zu der Gruppe.
Ziemlich erfroren waren sie, trotz Sonnenschein war es recht kühl draußen. Mit
heißem Kaffe und etwas geistigem Getränkezuschuss erwärmten sich die Zwei und
so konnten wir unsere Drahtesel wieder satteln. Immerhin wartete das
Anstaltsabendessen noch auf uns und der Weg durch die Wiesen war auch einige
Kilometer lang. Draußen diskutierten Einheimische, wen sie am nächsten Tag
wählen wollten. Es standen Landtagswahlen in Schleswig – Holstein an.
Einer wollte unbedingt die Freien Demokraten wählen, weil
ihn einige Zeitgenossen ärgerten und er zitierte auch sofort Einen. „So lang
der Arsch noch in die Hose passt, wird keine Arbeit angefasst.“ Sicher sind
diese Menschen ärgerlich, doch er hatte wohl auch keine Antwort auf die Frage,
was mit denen wird, die nichts finden. Die mit fünfzig zu alt sind oder mit
zwanzig noch keine dreißig Jahre Berufserfahrung haben. Nun, uns ging die Wahl
nichts an, wir hatten keine, es musste zurück in die Anstalt gehen. Der bislang
sehr ruhige Wind frischte auf, ein Zeichen? Wir schafften es pünktlich zurück
und ein schöner Samstag ging zu Ende.
-8-
Wahlsonntag auf Föhr, wir hatten schon gewählt. Pünktlich
um 09:15 Uhr fuhr unser Wahllokal vor. Wir gaben unseren Zwanzigeurowahlschein
ab, bekamen dafür einen gültigen Fahrschein und los ging es nach Wyk. Fototour
am Hafen, durch die Häberlinstraße, Teetrinken am Sandwall und auf dem
„Fischmarkt“ ein „Reichskanzlerheringsbrötchen“ essen. Sehr lecker dieser
„Reichskanzlerhering“ in warmen Brötchen. Im Allgemeinen ist dieser
„Reichskanzlerhering“ als „Bismarckhering“ bekannt, nur damit hier niemand auf
falsche Gedanken kommt.
Es gibt
auch einige nette Beobachtungen in dieser Stadt Wyk. So werden am Sandwall die
Radfahrer ganz freundlich gebeten abzusteigen. Mit folgendem Spruch geht dies: „Vernünftige
fahren hier nicht mit dem Rad- den Anderen ist es verboten“
Warum geht es hier so nett und anderenorts gibt es nur
harsche Verbotsschilder?
Oder der Hinweis am Hafentor: „Hafengrenze, nur
Hafenverkehr zugelassen, sonstiger Verkehr auf eigene Gefahr.“ Netter Hinweis
und ein Jeder schmunzelte über dieses Schild.
An diesem Sonntag wurden wir nicht sandgestrahlt, doch es
war etwas trüber. Gegen Mittag setzte sogar leichter Regen ein. Wir nahmen nach
dem spartanischen Heringsbrötchen unsere Fahrscheine und enterten die „Hauke
Haien“, ein schnittiges Kreuzfahrtschiff der etwas kleineren Art. Es ging auf
„Große Fahrt“ über das Wattenmeer zu den Halligen und den Seehundbänken. Neptun
hatte wohl Mitleid mit uns Landratten, es klarte auf und der Seegang war recht
magenfreundlich. Die erste Hallig war Langeness, steuerbords versanken die
letzten Häuser von Wyk hinter dem Horizont und backbord tauchten die Warften
von Langeness aus dem Dunst wie kleine Burgen auf. Im gewissen Sinne sind die
Warften ja auch Burgen, sie schützen nicht vor Piraten, doch vor der allzu
neugierigen Nordsee bei Sturmflut. Bei Nebel erinnern diese Warften bestimmt an
Segler, an den „Fliegenden Holländer“ oder Geisterinseln. Als wir den kleinen
Hafen und den Leuchtturm von Langeness hinter uns gelassen hatten, riss der
Himmel vollends auf und strahlender Sonnenschein begleitete uns auf der weiteren
Fahrt. Der Wind frischte zwar etwas auf, aber immer noch erträgliches
Schaukeln. Der sehr schweigsame Käpt`n suchte sich den Weg durch die See sicher
nach den Gezeiten, immer wieder wechselte er den Kurs, doch wir wollten nicht
auf Grund laufen, schließlich wussten wir nicht, wie man ein Schiff anschiebt.
Plötzlich
meldete sich der Kapitän doch zu Wort. Allerdings nur, um uns mitzuteilen, dass
er in zehn Minuten auf Hooge festmacht, wer will soll aussteigen und in drei
Stunden wieder am Kai stehen, dann ginge es zurück. Wir wollten aussteigen. Hoffentlich
hielt der Kapitän auch Wort und kam wieder. Solch eine Hallig ist zwar nicht so
einsam wie Robinson Crusoes Eiland, doch auf normalem Weg nicht mehr zu
verlassen. Am Anleger standen natürlich die Fahrradverleiher, aber auch Planwagenlenker
mit gemütlichen Zossen der Marke Schleswiger. Sehr ausdauernde und gemütliche
Pferde, nicht die schnellsten Traber,
doch irgendwie passten sie zu den Menschen an der Küste, immer mit der Ruhe,
nur nicht hetzen. Das war auch eine Lehre bei dieser Reha, mache in Ruhe, Hast
schadet nur.
Willi, unser Planwagenlenker, war schon um einiges
gesprächiger als der Käpt`n der „Hauke Haien“. Zunächst stellte er seine
Gefährten vor, erzählte, dass sie nur jeden zweiten Tag arbeiten mussten, im
Gegensatz zu ihm und im Stall noch zwei Pferde warteten. Pferd müsste man sein,
Teilzeitarbeiter. Unter ständigen Erklärungen fuhr er mit uns zur „Hanswarft.“ Endlich
sahen wir solch ein „Geisterschiff“, eine „Fluchtburg oder wie die Fantasie
solch ein Gebilde auch immer bezeichnete aus der Nähe. Sechs Meter hoch
eingedeicht standen die Häuser auf der Hallig. Wie in einem Talkessel
schmiegten sie sich dicht aneinander. In der Warft der kleine Halligladen, ein
Restaurant, ein Inselkino mit einem Film über Sturmfluten. Draußen fraßen die
Ringelgänse die Weiden ab, einheimische Kühe mussten Silage und Heu fressen,
drinnen blühten die Blumen und es war beinah windstill und angenehm warm. Fast
schon richtiger Frühling. Auf der Hallig gab es auch eine Schule, zwei Schüler,
von denen einer sogar aus Lübeck importiert war. Mit Abschreiben war da wohl
nichts und der Lehrer hatte es sicher auch einfacher. Immerhin musste er nicht
fünfundzwanzig Aufsätze, Klassenarbeiten oder Diktate durchsehen. Neben der
Schule hatten sie sogar einen Kindergarten mit fünf Zwergen. Sehr überschaubar
die kleine Rasselbande.
Wir
mussten uns entscheiden, drei Stunden sind nicht lang, also besuchten wir den
„Königspesel“, ein Museum in einem alten Kapitänshaus. Das älteste Privatmuseum
in Schleswig-Holstein. Zunächst kam natürlich die Erklärung, was ein Pesel ist.
Es ist die gute Stube der Friesen, das Wohnzimmer. Früher neben der Küche der
einzige Raum, welcher beheizt wurde. In ihm stand in einem Alkoven auch das
Bett der Familie. Klein mussten sie gewesen sein, oder sie schliefen im Sitzen.
Soll so gewesen sein, weil sie bei der feuchten Luft öfter erkältet waren, die
Menschen damals. Das bekommt man in anderen Gegenden auch erklärt. Königspesel
nun deswegen, weil Hooge damals zu Dänemark gehörte und Friedrich VI. von
Dänemark nach einer Sturmflut 1825 die Hallig besichtigte. Er sagte wohl auch
Hilfe zu, aber wegen widriger Umstände konnte er die Hallig nicht verlassen und
musste dort übernachten. Die Hilfe kam wohl auch und ihm zu Ehren heißt die
gute Stube eben „Königspesel“. Beindruckend die Wand- und Deckenmalereien,
ebenso die die Delfterkacheln mit biblischen Motiven. Die Besitzer des Hauses
mussten sehr wohlhabend, aber auch kunstsinnig gewesen sein. Aber auch die
Handwerker in alten Zeiten bauten für die Ewigkeit. Eine Uhr lief nach
dreihundert Jahren noch genau, die Möbel standen stabil und benutzbar im Raum
und sicher haben die Bewohner alles durch Benutzung erhalten. In der Küche
beeindruckte der offene Herd, Geschirr säuberlich an den Wänden, neben dem Herd
aufgestapelt in einer extra Kammer, das Brennmaterial. Holz gab es kaum,
höchstens Treibholz. Dafür getrockneter Kuhmist als Feuermaterial. Wasser zum
Trinken war bis 1969 knapp, sie sammelten Regenwasser für sich und das Vieh. Einen
Arzt gibt es nicht, dafür einen Sanitäter und die Feuerwehr. Wer also einsam
leben möchte, kann es auf einer Hallig versuchen. Gemeinsinn ist jedoch
unabdingbar, allein geht man unter.
Wir
hatten noch Zeit, so wanderten wir zur nächsten Warft. Unterwegs flanierte die
„Heidi Klum“ der Heringsmöwen immer vor uns rum. Natürlich fotografierten wir
sie in ihrer vollen Schönheit, doch leider hatten wir kein Honorar für diese Möwe.
Entlang der abgefressenen Weiden auf einer gut ausgebauten Straße ging es zur nächsten
Warft. Zeit für ein Gruppenfoto und einen Schwatz mit einem Einheimischen. Auf
der Hallig geboren, hier geblieben und sich eine Frau „eingefangen.“ Manchmal
bleiben eben Touristen auf einer Hallig und leben dann dort. Fast war die Zeit
schon um, Willi wartete mit seinen Kumpeln an der Hanswarft. Auf den Planwagen
und dann auf zur Kirchwarft. Nach der Sturmflut 1632 war die Zerstörung groß,
die alte Kirche weg, der Weg zur Nachbarhallig zerstört, die Insel war einfach
zerrissen und die Frauen bauten aus Trümmern eine neue Kirche. Sie suchten
Steine zusammen, nahmen das alte Taufbecken und irgendwann war die kleine
Kirche fertig. Nur die Bänke stehen auf dem Sand der Hallig, aber trocken war
sie innen. Um das Kirchlein wieder der Kirchhof und an der Kirche direkt angebaut
das Pfarrhaus, einiges größer als die Kirche. Die einzige Glocke steht in einem
Glockenstuhl vor der Kirche. Es ist bestimmt schön, wenn ihr Geläute über die
Hallig schwebt, hinaus in die Weite des Wattenmeeres.
Wieder einmal erlebten wir, wie die Frauen die Karre aus
dem Dreck gezogen hatten.
Willi
brachte uns pünktlich zum Anleger, das Schiff war auch da und wir machten uns
auf den Heimweg. Im Vorschiff stehend, die Nase im Wind ging es wieder nach
Föhr zurück. Plötzlich eine Durchsage, des immer noch schweigsamen Kapitäns,
das Vorschiff füllte sich und wir näherten uns mit langsamer Fahrt den
Seehundbänken. Da lagen die imposanten Tiere in der milden Sonne auf
ausgedehnten Sandbänken. Offensichtlich kannten sie die Besichtigung durch
Menschen, eine Robbe eilte noch schnell auf die Sandbank, kurz mit dem Nachbarn
geschwatzt und dann in Positur gebracht. Ein letzter Blick einer großen Robbe
über die Gruppe, alles fertig zum Fototermin. Ihr glaubt es nicht? Fahrt
einfach einmal hin, wie diese Tiere scheinbar sich sehr wissend den
Schaulustigen präsentieren. Zum Glück gibt es wieder ausreichend Robben in der
Nordsee und zum Glück nimmt die Vernunft weiter zu, sie werden dort jedenfalls
nicht gejagt. Nach der Passage nahm die „Hauke Haien“ wieder Fahrt auf, das
Vorschiff leerte sich und wir genossen die Fahrt in den Sonnenuntergang. Am
Horizont tauchte langsam Föhr aus dem blau leuchtenden Meer auf, die
„Adlerexpress“ kreuzte unseren Kurs in eiliger Fahrt mit Gischt vorm Bug und
Gischt am Heck.
„Gischt schäumt um den Bug wie
Flocken von Schnee“ dichtete einst Fontane in seinem „John Maynard“, nur Feuer
brach nicht aus, zum Glück für uns. Bei Ebbe erreichten wir etwas durchgefroren
die alte Mole von Wyk. Über glitschige Stufen ging es nach oben und mit dem gut
geheizten Bus zurück in die Anstalt. An diesem Abend war uns nicht mehr nach
langen Spaziergängen.
-9-
Montag, die letzte volle Woche für Cora und mich war
angebrochen. Die anderen Mädels wollten noch bleiben, ich hätte ja auch
gesollt, doch manchmal gibt es leider Zwänge, die dies verhindern. Wie immer
begann auch diese Woche mit einer Visite. Der Doktor war ganz zufrieden, bei
den Mädels schien es auch so zu sein und wir konnten unseren Beschäftigungen
nach gehen. Muckibude, Nordic Walking, Wassersport und einige Patienten traten
in die Fußstapfen Robin Hoods oder eher in die des „Grünen Bogenschützen“?
Naja, die alten Engländer waren da wohl besser in der Handhabung von Pfeil und
Bogen, doch es kam ja auf die Bewegung an und den Spaß in der Gruppe. Lebensmut
und Kraft sollten wir tanken, Anregungen für das Leben nach der Reha wollten
sie uns mitgeben.
Das Café
war selbstverständlich wieder zu, so trafen wir Kaffeejunkies uns im „Ual
Skinne“ in Utersum. Die Wirtin freute es sicher, sie machte den Umsatz, den der
Wirt in der Anstalt nicht haben wollte. Nach dem Abendessen konnte man sich auf
den verschlungenen Wegen des Parkes mit den „Einheimischen“ treffen, Hasen,
Rehe, Kaninchen und Fasane. Alles, was diese abfraßen, mussten die
Anstaltsgärtner nicht mehr mähen. So ähnelten diese Tiere den Schafen auf dem
Deich, sie waren aber freier, nur die Insel begrenzte ihre Freiheit. Jeder Weg
führte hier unweigerlich zum Strand. Dort, hinter den Büschen, trafen sich die
Smoker. Hier konnten sie ihrem Laster frönen. Vor zwei Jahren gehörte ich auch
noch zu diesen Menschen. Welch ein Glück, ich wurde „erwachsen“, musste nicht
mehr nuckeln. Doch es war ein harter Weg und steinig dazu, also verurteilte ich
keinen Raucher. Vielleicht schaffen es noch einige von ihnen, mit dem Laster
aufzuhören. Sie müssten nur einmal die Genüsse des Nichtrauchens kennenlernen. Leider
ist die Wissenschaft da noch nicht weiter, wenigstens mal einen Tag zeigen, wie
wohl man sich fühlen kann, riechen und schmecken wie damals als nichtrauchendes
Kind.
Das
Wetter trübte sich ein, so wie die Stimmung in der Klinik auch an Reisetagen.
Komisch ist es, wenn jemand geht, werden die
Zurückbleibenden melancholisch. Manche nette Bekanntschaft fuhr heim, begleitet
mit den besten Wünschen der Zurückbleibenden, mit schönen Erinnerungen im
Gepäck und einige hatten ihre ersten selbst gemalten Gemälde in ihren Taschen,
trugen Texte aus der Schreibwerkstatt heim und jede Menge guter Vorsätze. Ich
glaube schon, dass solch eine Zeit der Unbeschwertheit, der relativen Ruhe und
dem angenehmen Gefühl der Geborgenheit und Umsorgtheit Menschen aufbauen kann.
Regen begleitete die Reisenden und begrüßte die
Ankommenden. Noch ahnten wir nicht, dass es in einer Woche auch bei Cora und
mir so sein würde. Bis zum Donnerstag sagten die Wetterfrösche solch ein Wetter
voraus, aber nach einem Donnerwetter und heftigem Regen in der Nacht besserte
es sich so weit, dass wir mit den Rädern zu „Milk and More“ fahren konnten.
Leckerer Apfelkuchen und Kaffee mit frischer Milch warteten mal wieder auf uns.
Die Milch geht nicht frischer als auf einem Bauernhof. Der Altbauer war noch
immer in Flensburg im Krankenhaus, die Inselärzte hatten ja nicht alle
Möglichkeiten wie auf dem Festland. Das hieß natürlich auch, nicht jeden Nachmittag
konnte die Bäuerin mal eben ihren Mann besuchen. Da wurde uns wieder bewusst,
wie gut es uns Festländern eigentlich geht, wir sind in mancher Beziehung
ziemlich verwöhnt.
Mittwoch
nach dem Abendessen gab es „freies Singen“ mit Leuten, die sich einfach mal
trauten. Dreißig Rehabilitanden waren wir auf der Bühne. Schön im Kreis sitzen
und sich freuen, dass wir mal wieder singen konnten. Doch so einfach ging es
dann doch nicht bei unserer Chorleiterin. Erst einmal einen Satz heiße Ohren
machen, nicht gegenseitig ohrfeigen, einfach die Ohren an den Rändern reiben,
bis sie glühen. Nun ein Lagerfeuer in der Mitte des Kreises anfachen, pusten,
ganz heftig in die schwelende Glut blasen. Na bitte, es ging doch, hoch lodern
die imaginären Flammen. Plötzlich klingeln die Telefone, abnehmen und in drei
Tonlagen sich einfach mal mit ja, jaaah, ja melden, um dann noch die summenden
Bienen nachzuahmen. Summen, bis die Lippen kribbeln. Endlich schienen wir warm
genug zu sein und wir bekamen unsere Texttafeln mit Noten. Mailieder standen
auf dem Plan.
„Komm lieber Mai und mache …“; „Alle Vögel sind schon da
…“ und einige andere Lieder, von denen ich glaubte, sie schon fast vergessen zu
haben. Natürlich durfte auch ein Canon nicht fehlen, dreistimmig bitte schön: „Es
tönen die Lieder, der Frühling kehrt wieder …“. Es klappte sogar wunderbar.
Auch das berühmte Lied vom Kuckuck und dem Esel, ihr wisst schon, sie hatten
einen Streit, gelang mehrstimmig. Schnell, viel zu schnell, verging wieder eine
Stunde. Es ist erstaunlich, wie man seine Zeit sinnvoll nutzen kann, wenn man
einfach einmal nicht fernsieht, wenn man sich trifft wie früher und Spaß hat.
Auch wieder ein dezenter Hinweis auf Entschleunigung.
Der
nächste Morgen, ein Donnerstag ohne Donner aber mit Regen, brachte uns wieder
in das Schwimmbecken. Aquajogging mit Froschhänden war uns ja bekannt, doch die
Therapeutin verschärfte die Übung. Jeder über einer gewissen Größe musste
Schaumstoffschuhe tragen. Bei normaler Fortbewegung noch kein größeres Problem,
aber dann. Das Ganze rückwärts, so schnell es geht und dabei bremsten die
netten Schuhe gewaltig die Geschwindigkeit. Sie waren hinten offen. Aber auch
diese „Tortur“ ging vorüber und die anderen Anwendungen wurden für diesen Tag
gemäßigter. Eines mussten wir den Planern der Reha lassen, sie konnten
Belastung und Erholung gut abstimmen.
Den
berüchtigten Vogel schoss an diesem Tag allerdings der Wirt der Cafeteria ab.
Er schloss aus „statischen Gründen“ die Budike und warnte vor dem Betreten der
Terrasse. Damit hatte er wohl endgültig die Anstaltsleitung gegen sich
aufgebracht. Ich lernte in meinem Leben schon manchen schrulligen Menschen
kennen, aber dieser Wirt war doch etwas Besonderes. Nun ja, dann eben wieder in
das bekannte Café. Joghurtsahnetorte mit Himbeeren, Süßes und Saures vereint,
heißen Kaffee und alles im Haus, draußen war es noch zu ungemütlich. Mit Cora
und Angelina bestellten wir einen Tisch für den Dienstag der nächsten Woche,
hörte sich weit weg an, war aber nur noch vier Tage weit bis dahin. Unser
gemeinsames Abendmahl oder Abschiedsessen sollte es werden. Wir freuten uns
schon alle auf ein saftiges Steak. Nichts gegen die Anstaltskost, aber unseren
Abschied mussten wir mit einem opulenten Mahl versüßen.
Der
Freitag begann wieder mit Regen, die Wetterküche setzte mal wieder auf
Abwechslung, Aprilkost im Mai. Zu Strandläufen reichte es, auch zu Fotos der
„aufgewühlten See“. Einheimische haben dieses Wetter und den Wind lächelnd als
normal abgetan, doch für uns war es schon beeindruckend. Zum Nachmittag wurde
es etwas besser, also wieder auf die Räder und über die Insel. Natürlich zum
Bauernhof, einen Kaffee und keinen Kuchen, dafür warme Socken, der nächste
Winter kommt bestimmt. Über Süderende führte uns der Weg. „Altes Pastorat“
ehemaliges Pastorenhaus und „Seefahrerschule“, hier lernten Föhrer Mathematik
und Navigation, heute Landhaushotel, daneben viele liebevoll erhaltene Häuser.
Diese Häuser luden einfach zum Fotografieren ein. Beeindruckend die Flutsäule
an der Straße nach Utersum. Der „Blanke Hans“, die Sturmflut vom Februar 1962,
brachte Wasser 4,35 m über Normalnull. Das Dorf liegt aber drei Kilometer
vom Strand entfernt. Unerschrocken müssen Friesen wohl sein und aufgeben gab
und gibt es wohl nicht. Leicht ist das Leben mitten im Meer sicher nicht, außer
man ist Fisch und selbst dann muss man aufpassen, dass man nicht gefangen wird.
Der Abend brachte uns noch einen Vortrag des Inselfotografen, auch ein
Zugereister. Wie so oft sah er als Zugereister Dinge, die Einheimische nicht
unbedingt beachtenswert finden. Dies ist eben das Privileg der Zugereisten und
Gäste. Erstaunliche Aufnahmen von gleichen Objekten in unterschiedlichen
Jahreszeiten, längst Vergangenes in Fotos bewahrt und dabei für alle Betrachter
spürbar, er lebte gern hier auf der Insel, mitten im Meer.
Nachts
kam Sturm auf, putzte den Himmel blank. Am Samstagmorgen kamen richtige Wellen
mit weißen Schaumkronen an den Strand. Das Meer war blau, blau wie der Himmel.
Sylt zeigte sich in herrlicher Pracht, nur vier Kilometer weg vom Utersumer
Strand, doch zu Fuß nicht erreichbar. Immer am Wasser entlang Richtung Dunsum.
Am Gästehaus mussten wir über den Deich und hinter den Deich. Weiter ging es
nun ohne Sandstrahlen in relativer Wärme. Sicher auch, weil wir natürlich dicke
Jacken anhatten. Rechts des Weges befanden sich Vogelkojen, wenigstens einmal
in eine solche Koje schauen. Früher, als die seefähigen Männer zum Walfang
fuhren, die Frauen die meiste Zeit des Jahres selbst für den Unterhalt der
Familien arbeiteten, entstanden diese Vogelkojen. In den Teichen schwammen
natürlich Fische, welche sie auch aßen, doch wichtiger waren durchziehende
Vögel. Sie wurden gefangen auf diesen Teichen, mitten zwischen Büschen.
Verkauft brachten sie etwas Geld in die Taschen, gegessen füllten sie hungrige
Mägen. Heute holen sich die Menschen ihren Vogel natürlich aus dem eigenen
Stall, beim Bauern oder eben im Supermarkt. Doch damals, Not und Hunger machten
schon immer erfinderisch.
Am Abend
dann noch ein Vortrag und Diskussion mit Frau Dr. Fuchs über unsere eigenen
Kraftquellen. Darauf muss man erst einmal kommen, die Kraft zum Weiterleben in
sich selbst zu finden. Wie oft hört der Mensch: „Steh einmal mehr auf, als Du
fällst.“ Doch ist es immer einfach? Egal welchen Grund es für den Fall gab, Scheidung,
Krankheit, Verlust eines Menschen und Mensch steh auf?
Was lächeln wir manchmal über den Spruch: „Wenn Du denkst
es geht nichts mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.“
Baron von Münchhausen zog sich an den eigenen Haaren aus
dem Sumpf, wir lächelten über diesen Lügenbaron, doch vielleicht war es ein
frühes Werk eines unbewussten psychologischen Ratgebers?
Auf den
ersten Blick scheint es etwas lächerlich, unwirklich und unreal. Doch bei
längerem Nachdenken und zur Ruhe kommen, findet man seinen Weg. Vergessen wir
nie die Kraft, welche in uns wohnt, erinnern wir uns immer an Momente, in denen
wir aus dunklen Schluchten wieder hoch ans Licht kletterten.
-10-
Es war nun für Cora und mich der definitiv letzte Sonntag
in der Anstalt. Cora hatte aus einer Zeitung oder dem Inselprogramm erfahren,
dass an eben diesem Sonntag vor Himmelfahrt ein Gottesdienst im Friesendom
stattfindet, in welchem skandinavische Kirchenlieder vom Posaunenchor der
Kirche gespielt werden. Nach dem Frühstück schwangen wir uns bei Sonnenschein
auf die Räder, radelten frohgemut die sechs Kilometer über die Traumstraße zur
Kirche. Noch war etwas Zeit und wir schlenderten über einen Teil des
Kirchhofes, welchen wir bei unserem ersten Besuch nicht sahen. Hier mussten wir
feststellen, dass die Gefallenen Männer, Söhne und Brüder auch aus dem letzten
Krieg zu mindestens ein ehrendes Gedenken erhielten. So lagen im Schatten der
Kirche und eines mahnenden Obelisken die Grabsteine der „unfreiwilligen Helden
des Vaterlandes.“ Möglicherweise würden einige heute auch gern den Gottesdienst
besucht haben, ebenso wie die zivilen Opfer, Frauen, Kinder und Alte, welche
auf der Flucht hier durchkamen und verstarben. Überall mahnen uns solche Steine
und man muss erst älter werden, um ihren wahren Sinn zu begreifen. So viele
„Helden“ verträgt kein Land und Mütter vertragen erst recht nicht so viele tote
Söhne, Töchter und Männer. Komische Gedanken kommen einem an einem sonnigen
Sonntagmorgen auf einem Kirchhof. Wir gingen in das Gotteshaus, suchten uns
einen Platz und harrten der Dinge, die da kommen würden. Gut besucht war die
Kirche, auch von einigen Patienten der Anstalt, aber hauptsächlich von
Einheimischen. Sie kamen mit Kind und Kegel, klein und groß, Jung und Alt. Mit
dem Singen war es allerdings so eine Sache, einige kannten die Texte nicht, ich
gehörte auch in diese Gruppe, andere trauten sich möglicherweise nicht und der
Rest der Gemeinde sang verhalten und leise. Erstaunlich war die Musik aus dem
Norden Europas. Kraftvoll und gar nicht so kirchlich, wie ich es erwartet
hätte. Ein Lied kannte wohl jeder, aus Schweden kam es und ist bei uns als
„Volksweise“ bekannt. „Im Frühtau zu Berge, wir ziehn …“. Nun, wenn die Kirche
eine Volkskirche ist, dann kann auch ein Kirchenlied durchaus als Volksweise
bezeichnet werden. Der Pfarrer erzählte über die natürlichen Verbindungen der
Friesen zu Skandinavien, die Gemeinsamkeiten der Völker und zum Schluss lud er
zum Abendmahl. Die Kirchenmitglieder trafen sich im großen Kreis, die Gäste
schauten andächtig zu. Irgendwie glauben wir in unserem Innern vielleicht alle,
zu mindestens können wir uns dem Glauben ein Stück weit öffnen. Vielleicht
leben Gläubige, egal welcher Religion sie angehören, etwas freier. Vielleicht
ist es auch eine Kraftquelle in manchen Menschen, von denen wir am Samstagabend
mit Frau Fuchs sprachen.
Cora
musste unbedingt noch einmal in das Teehaus. Natürlich fuhr ich mit und wie
immer gab es eine Tasse Tee in dem gastlichen Haus. Eine neue Mitarbeiterin
bediente uns heute. Offensichtlich eine Osteuropäerin, Polin oder Russin mit
sehr guten Deutschkenntnissen. Wie es sich am folgenden Dienstag zeigen sollte,
kannten wir ihren Ehemann schon einige Tage länger, er war der Kellner im „UAL
SKINNE“. Sie war studierte Slawistin, beherrschte neben ihre Muttersprache
polnisch auch Deutsch, Russisch, Litauisch und bekam keine Arbeit in der
Heimat. Wie ähnlich sind sich doch die Schicksale in diesem Europa. Aber sind
dies die hoch qualifizierten Gastarbeiter, die Deutschland so dringend benötigt.
Als Russischlehrerin oder überhaupt als Lehrerin wäre sie an dem richtigen
Platz. Nun verkaufte sie Friesentee an Einheimische und Gäste. Verkehrte Welt,
Europa auf dem Irrweg?
Nach den
Einkäufen machten wir uns auf den Weg zur Anstalt, Mittagessen am Sonntag, das
erste Mittagessen übrigens an einem Sonntag für uns in der Anstalt. Sonst waren
wir ja immer unterwegs. Nach dem Essen dann mit Cora und Angelina die letzte
größere Radtour nach Alkersum. Ziel war das Museum „Kunst der Westküste.“ Ein
ehemaliger Gasthof, heute auch noch Café mit großem Saal, Herberge für Künstler
aller Länder. Nach einigen nicht sehr erfreulichen Gästen schaffte es dann doch
irgendwann ein Maler, Frau Hansen umzustimmen. Sie gewährte ihm Unterkunft und
so begann wohl die Geschichte der Kunst in Grethjens Gasthof. Mit einem Stifter, Dr. Frederik Paulsen sen., begann dann
das eigentliche Museumsleben in Alkersum. Wie in allen Museen der Welt begann
der Rundgang natürlich mit einem moderaten Eintritt und wegen eines
bedauerlichen Brandschadens in zwei Räumen, wurde dieser Preis sogar reduziert.
Schade, denn so fehlten uns einige Eindrücke. Allerdings durften wir uns noch
einer Führung anschließen. Zunächst gab es eine Ausstellung einer dänischen
Künstlerin, welche Frauen in der Tracht dänischer Nordseeinseln fotografierte.
Auf den ersten Blick erinnerten die Fotos an das
„berühmte Bildnis“ einer Tuareg. Mancher kennt dieses Foto mit den
beeindruckenden braunen Augen in einem ansonsten verhüllten Gesicht. So
schauten die Augen der Frauen auch auf diesen Fotos von TRINE SØNDERGAARD hinter den Schleiern der
Trachten aus den alten Tagen hervor. Es gab schon Unterschiede in der Tracht
und die Augen waren auch nicht so leuchtendes, warmes Braun. Diese Augen waren
so grünblau wie das Meer, an dessen Küsten die Menschen hier lebten. Von dieser
Fotoschau „Strude“ führten uns unsere Erklärer auf eine Galerie. Ein weiter
Blick in den Saal öffnete sich, die Inselfrauen beim Häkeln. Den Grund für
diesen Häkeleifer erfuhren wir später, zunächst Gemälde der romantischen
Heimatmalerei im neunzehnten Jahrhundert. Daneben dann Fotos aus dem richtigen
Leben der Föhrer, nichts mit Romantik, harte Arbeit in schwerer Tracht prägte
ihr Leben. Diese Tracht war nicht nur einfach Symbol für ihre Herkunft, sie schützte
sie vor dem Wind, der Sonne und dem „Sandstrahlen“ auf den Feldern. Wir konnten
ja abbiegen und uns hinter Häusern verstecken, doch die Menschen, welche hier
leben und arbeiten mussten und müssen, müssen mit ihrer Umwelt klarkommen. Durch
einige neue Nebengebäude mit kleinen Installationen verschiedener Künstler,
hauptsächlich Videoarbeiten kamen wir in einen alten Anbau des Museums. Bilder
von Schiffbrüchen zierten die Wände. Meistens waren es schon ältere Gemälde,
sehr realistisch dargestellt und doch auch romantisch, in der Art eines Caspar
David Friedrich eben. Doch ein Gemälde stach sofort ins Auge, der Untergang der
französischen Fregatte „Medusa.“ Seinerzeit in Frankreich eine Staatsaffäre,
von Theodore Gericoult 1819 gemalt, versuchte sich ein junger Künstler in einer
neuen Technik mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Von Weitem ein Gemälde, aus
der Nähe eine gute Arbeit mit einem Computer, Fotoapparat und Collagetechnik.
Durchaus ansehenswert in dem Kontrast zu den romantischen Gemälden. Endlich
sahen wir auch die Häkelarbeiten der Inselfrauen wieder. Sie häkelten ein
Korallenriff nach den Vorstellungen zweier amerikanischer Künstlerinnen. Andere
Frauen bauten die Korallen zusammen zum Riff. Hoffentlich ist es mal nicht das
Einzige, welches überlebt. An dieser Stelle waren einige Fotos erlaubt und die
Führung endete.
Kaffee trinken war angesagt und notwendig, dann Heimfahrt
in die Anstalt. Der letzte Sonntag war wenigstens auch schön vergangen. Montags
die letzte Visite für uns, als arbeitsfähig entlassen. Natürlich noch gute
Ratschläge vom Doktor, doch in Gedanken schon beim Abschied. Nur noch kleinere
Anwendungen lagen an, Spazierengehen und mit dem Rad am Deich entlang. Abends
noch eine letzte Stunde Schreibwerkstatt mit Frau Fuchs. Diesmal las sie uns
ein Gedicht vor. Es begann mit den Worten „Ich gehe die Straße entlang …“
Erzählte von einem Menschen,
der immer wieder in ein Loch fiel, aber eines Tages selbst dort raus kam. Wir
waren wieder an dem Punkt vom letzten Samstag, passe auf dich selbst auf, suche
die Kraft in dir und dir wird geholfen. Wieder bekamen wir fünf Minuten für
unsere Gedanken und die Kugelschreibergeräusche auf dem Papier waren die
einzigen Geräusche im Raum. Im Anschluss durfte wieder vorgelesen werden. Cora
war diesmal mit und sie war richtig stolz, doch ihre Gedanken behielt sie für
sich. Niemand musste vorlesen, bei mir kamen diese Gedanken hervor:
„Ich gehe die Straße entlang, die Straße meines Lebens.
Am Anfang schob mich meine
Mutter dort im Wagen entlang, später lief ich an ihrer Hand. Eine ganze Weile
liefen wir so. Eines Tages lies sie mich los und ich musste allein laufen. Ich
konnte es. Sie geht immer noch manchmal neben mir. Doch seit langer Zeit geht
meine Frau neben mir. Wir schoben unseren Sohn in seinem Wagen ein Stück die
Straße entlang, er lernte laufen. Wir mussten ihn laufen lassen, loslassen, wie
unsere Mütter uns. Nun gehen wir bald mit unserem Enkel hier entlang, manchmal,
wenn wir Oma und Opa sein werden. Neben uns laufen die Kinder mit dem Enkel und
die Uroma ist auch noch dabei.“
Am Ende las ich noch einige
Sätze aus dieser „Anstaltsgeschichte“ vor, aus den Anfängen natürlich. Ein
kleiner Abschied von lieb gewonnenen Wahlbekanntschaften. Es ist das gleiche
Los wie in schönen Urlauben, wir lernen nette Menschen kennen und trennen uns
dann wieder. Unsere Wege kreuzen sich und laufen eine Weile nebeneinander, doch
dann trennen sie sich wieder. Zurück bleiben Erinnerungen, neue Erkenntnisse
und eben auch Lebensmut.
Einige unserer Bekannten auf
Zeit versuchten sich im Malen, ihre ersten Gemälde waren entstanden, sie
wussten nicht, dass sie es können. Nur geahnt haben sie es, ganz tief in sich.
Dienstags dann das „große Fressen.“ Es wurde keine
römische Orgie, so dekadent sind wir nicht, doch lustig war es. Wir erinnerten
uns an lustige Ereignisse in der Anstalt, die Adressen waren ausgetauscht und die
große Traurigkeit des Abschiedes hoben wir uns für den Mittwoch auf. In der
Nacht frischte der Wind wieder auf, Cora fuhr als Erste, gleich nach dem Frühstück,
ich etwas später mit dem Bus. Ein letztes Mal die Mädels gesehen, die Anstalt
in ihrer ganzen Backsteinpracht angeschaut und ein letztes Mal durch Nieblum.
Die Fahrt über die See würde wohl nicht so schön sein, wie vor drei Wochen.
Sonnendeck fiel in den Regen, dafür dann mal in den Salon. Die aufgewühlte,
graue See versuchte unsere Fähre von Steuerbord her zu schaukeln, es gelang ihr
nicht sehr gut. Das Wetter war aber eigentlich egal, genauso egal wie der nasse
Abschiedsgruß der See am Fähranleger in Dagebüll. Tobe du Nordsee, wir wurden
nicht seekrank. Nun gab es nur noch den langen Weg nach Haus, bis zur
Mitternacht würde er noch dauern.
Wir
nahmen von der Insel gute Erinnerungen und nützliche Ratschläge mit.
Erinnerungen an nette, kompetente Ärzte und Pfleger, Physiotherapeuten mit
goldenen Händen und ein gutes Küchenpersonal. Alle dienstbaren Geister der
Anstalt gaben sich Mühe und uns das schöne Gefühl, einmal nicht für alles Selbst
sorgen zu müssen. Einmal nicht für jeden verfügbar sein zu müssen.
Möglicherweise
sahen uns ja andere Mitmenschen dort auch als schrullig an und lächelten über
uns, sowie wir über einige lächelten. Seht es wie Heinz Rühmann in der
berühmten „Feuerzangenbowle“, solch eine verrückte Anstalt und solch verrückte
Patienten gibt es gar nicht. Alles etwas übertrieben, aber nichts gelogen. Es
war schön und erholsam dort in der Rehaklinik Utersum auf Föhr.
Danke an alle Beteiligten und vielleicht sehen sich dieser
und jene mal irgendwann und irgendwo wieder. Dann ertönt es vielleicht bei
einem Kaffee: „Weist du noch, damals in der Anstalt in Utersum?“ Lachen wird es
geben und Gäste schauen sich nach den albernen „Alten“ um.
Geschrieben vom April bis 26. Juni 2012
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