Im Frühtau zu
Berge – Gedanken zu einem Lied in schlafloser Nacht
© Frank Handrek am 26.September 2015
Da sitze ich nun schlaflos und ein altes Volkslied geht mir
nicht aus dem Kopf. Jeder lernte es vor langer Zeit in der Schule. Eigentlich
ist es ja kein Volkslied, so sagte es der Pfarrer im Friesendom zu Nieblum auf
der Insel Föhr. Damals am letzten Sonntag unserer Reha in Utersum, während
eines Musikgottesdienstes, hörten wir dieses Lied und irgendwie klingt es nun
in meinem Kopf.
„Im
Frühtau zu Berge wir geh`n, fallera,
es grünen die Wälder, die Höhn, fallera.
Wir wandern ohne Sorgen
Singend in den Morgen
Noch ehe im Tale die Hähne kräh`n.“
Tau fällt ja nun jeden Morgen, wie Tränen liegt er auf dem
Gras, tropft von welkenden Blättern. Die Wälder grünen nicht mehr, es wird
Herbst nach einem heißen Sommer und schon längst beginnt der Morgen reichlich
spät am Tag. Ohne Sorgen wandern wir nicht mehr, das Privileg der Jugend ist
uns irgendwo auf unserem Lebensweg abhanden gekommen.
Doch heißt es nicht in der zweiten Strophe:
„Ihr
alten und hochweisen Leut, fallera,
ihr denkt wohl wir sind nicht gescheit,
fallera,
wer wollte aber singen,
wenn wir schon Grillen fingen
in dieser herrlichen Frühlingszeit?“
Da ist es wieder, ein Frühlingslied im Herbst. Was soll es?
Wir sind am Anfang unseres Lebensherbstes. Was heißt hier Herbst? Draußen
scheint die Sonne, kleine Wolken ziehen wie Schäfchen am blauen Himmel. Da
denkst du an Herbst, so an den Schmuddelherbst denkst du. Das Schöne siehst du
wohl nicht? Ist da irgendwo Nebel, ist da Regen oder Sturm?
Schau hin, letzte Rosen blühen schüchtern am Rosenbusch.
Sonnenblumen haben noch späte Blüten und Astern leuchten in allen Farben aus
dem Beet zu dir herüber. Spürst du die warmen Strahlen der Sonne nicht auf
deinem Gesicht? Vor nicht allzu langer Zeit wünschtest du dir den kühlen
Herbst, er verschafft dir doch immer Linderung, es ist doch so angenehm in der
samtigen Luft.
Weist du
noch, damals als wir ganz am Anfang standen, in unserem Lebensfrühling, freuten
wir uns über den schmelzenden Schnee, vorwitzige Schneeglöckchen, singende
Vögel und langsam wurde es wärmer. Die langen Wintersachen verschwanden, es war
ja Frühling und schon bald kam der Sommer. Beeren wurden reif, das Korn glänzte
gelb auf den Feldern und manchmal radelten wir zum See zum Baden. Schule gab es
nicht, es waren Ferien und wir konnten lange schlafen. Später ersetze uns der
Urlaub etwas die Ferien, war auch ganz nett, nur eben nicht so schön lang. Es
kam der Herbst mit seinen Früchten. Äpfel, Birnen, Pfirsiche, in den Wäldern
die Pilze und dann die Kastanien und Eicheln. Für die Tiere im Wald sammelten
wir die braunen und rostroten Wildfrüchte. Aber auch zum Basteln nahmen wir
sie. Natürlich nur die Schönsten. Dann kam der Winter, eines Tages war er
einfach da. Die Pfützen gefroren, eine Decke aus Schneezucker lag überall und
im Ofen prasselte das Feuer. Es gab Bratäpfel, Kürbissuppe, Schlachtefest und
ganz viel Heimlichkeit. Weihnachten stand vor der Tür. Die Weihnachtsmärkte
waren nicht so toll und bunt und laut wie heute. Viele Dinge gab es nur zu
dieser Zeit und mit viel Geduld beim Anstehen vor dem Laden. Die Mutter buk
Stollen, oder machte nur den Teig, welcher dann beim Bäcker gebacken wurde.
Draußen stand der Weihnachtsbaum und als er dann endlich in der Stube
leuchtete, manchmal noch mit richtigen weißen Wachskerzen, dann war es die
schönste Zeit im Jahr. Leise rieselte der Schnee, zwar nicht immer, der Wind
rüttelte an den Fenstern und manchmal waren die Winter bitter kalt. Aber
drinnen war ja der Herd an, ein Platz zum Wärmen war da. Hast du dies alles
vergessen?
Ich sehe
den Grund für deinen Gram, du schaust nur auf den Boden, die Last der Jahre
drückt dich. Aber hast du denn die dritte Strophe des Liedes vergessen?
„Werft
ab alle Sorgen und Qual, fallera,
und wandert mit uns durch das Tal, fallera,
Wir sind hinausgegangen,
den Sonnenschein zu fangen:
Kommt mit und versucht es auch selbst einmal!“
Ich habe da eine Idee, wir packen unsere Sorgenrucksäcke auf
unseren Rücken und gehen gemeinsam los. Einfach mal so den Berg hinauf. Ich
habe ein kleines Schippchen mit, nimm du auch eines. An jedem Baum der uns
gefällt vergraben wir eine unserer Sorgen. Für jede vergrabene Sorge heben wir
ein buntes Blatt auf und legen es in unseren Rucksack. Da ganz hinten am
Horizont geht langsam die Sonne auf, unser Atem dampft in der kühlen Luft und
die Rucksäcke drücken mit den Riemen auf den Schultern. Aber wir laufen, laufen
durch das Tal und suchen unseren ersten Baum zum Sorgen vergraben. Raschelnde
Blätter, das ist es, so wie damals raschelt das Laub unter den Füßen. Hier
vergrabe ich die erste Sorge. Eine uralte Linde ist es. Sie mag schon viele
Menschen gesehen haben, die hier mit ihren Sorgen vorbei kamen. Ob unter ihren
Wurzeln welche vergraben sind? Egal, ich grabe vorsichtig ein Loch zwischen den
Wurzeln der Linde. Meine Finger spüren die feuchte Erde und die raue Wurzel der
Linde. Trotzdem fasst sie sich warm an, schon immer fand ich, dass Holz sich warm
anfühlt. Das Loch ist wohl tief genug, die erste Sorge versenke ich darin,
schaufle mit den Händen die Erde darüber und klopfe sie fest. Auch die Blätter
der Linde verteile ich wieder, nur ein Blatt wandert in meinen Sorgenrucksack.
Irgendwie ist er schon leichter geworden. Die anderen Mitwanderer, ich sehe
erstmals, wie viele wir sind, erheben sich auch von ihren Plätzen unter den Bäumen.
Ein zaghaftes Lächeln auf manchem Gesicht, dann gehen wir weiter. Der Weg
windet sich in sanften Kurven zum Gipfel, es wird heller und auch wärmer. Eine
Lichtung tut sich auf, wir vergraben wieder Sorgen unter den Bäumen und sammeln
ein Blatt auf. Lange sind wir an diesem Tag unterwegs. Es wird warm, die
Herbstsonne steht hoch am Himmel, da erreichen wir den Gipfel. Hier steht kein
Baum, nur eine Schutzhütte mit Bänken davor. Wir setzen uns, schauen in unsere
Sorgenrucksäcke, doch darin sind nur bunte Blätter. Bei Einem mehr, beim
Anderen weniger. Aus der Hütte kommt ein altes Mütterchen, um ihr graues Haar
einen Kranz bunter Blätter und Blüten, in den Händen ein Tablett mit einer
zünftigen Brotzeit und irgendwoher kommen auch Krüge mit funkelndem Wein. Alle
staunen wir sie an, sie sitzt mitten unter uns, lächelt still und fordert uns
mit einer einladenden Handbewegung auf, uns zu bedienen. Als wir nichts mehr
essen konnten, zauberte das Mütterchen aus den Taschen ihrer bunten
Herbstschürze Bindfäden und Nadeln. Wir verstanden auch ohne Worte was sie
wollte. Wie in Kindertagen fädelten wir die Blätter auf, verknoteten die Enden
der Fäden und verstauten die Blätterketten in unseren Rucksäcken. Am Ende
wollten wir ihr danken und Lebewohl sagen, doch das Mütterchen war weg. Nur ein
warmer Windhauch strich über unsere Gesichter, die Sonne strahlte noch am fast blauen Himmel, wir
wanderten mit leichten Rucksäcken talwärts. Meine Blätterkette hängte ich am
Abend an mein Fenster, ein letzter Blick zum Berg, gerade ging die Sonne hinter
ihm rot leuchtend unter. Ich fühlte mich leicht und müde. Noch ein Blick aus
dem Fenster zur Straße, da liefen wirklich noch fröhliche Menschen, aber ich
legte mich in mein Bett und seit langer Zeit schlief ich ruhig und fest, bis
mich die Sonne am anderen Morgen wach kitzelte. Meine Blätterkette hängt immer
noch am Fenster, sie wird mich an den Tag erinnern, als ich meine Sorgen
begrub.
Es ist
egal, ob dieses Lied ein Frühlingslied ist oder nicht, wenn wir nicht Sorgen
vergraben können, können wir sie vielleicht weg singen. Das wird der nächste
Versuch zeigen, mitten im kalten Winter vielleicht.