Erfahrung
Um mich wölbt sich blauschwarz leuchtend ein Tunnel. Ich
gehe in ihm. Meine Füße laufen durch weiches, kühles Gras. Es ist nicht nass an
den Füßen, wie ich auch ganz leicht bin. Scheinbar schwebe ich über das Gras.
Ganz langsam gehe ich über dieses Gras und sehe Gänseblümchen und dicke, gelbe
Butterblumen erblühen. Ich trete nicht auf die Blüten, sie treten zur Seite. Im
Tunnel ist es nicht kalt und auch nicht dunkel. Ganz deutlich erkenne ich das
Grün der Wiese, das weiße und rote Farbenspiel in den Blüten der Gänseblümchen
und das leuchtende Gelb der Butterblumen. Angenehm kühle Luft umweht mich und
bringt den Duft blühender Bäume und Gärten mit. Ich schreite weiter. Umdrehen,
rückwärts schauen ist mir nicht möglich, ich will es auch nicht. Vor mir sehe
ich das Gewölbe des Tunnels in seinem tiefen Blauschwarz, fast wie ein Sommernachthimmel,
nur Sterne fehlen. Ganz am Ende des Tunnels leuchtet hellblau der Himmel und mitten
im Tunnelausgang eine große, runde Kugel. Gelbes Licht sendet sie aus, blendet
aber nicht. Ich gehe langsam immer weiter auf das Licht zu.
Mir ist
plötzlich so kalt, meine Zähne klappern, ich möchte mich krümmen, es geht
nicht. Das Licht ist weg, die Wiese sehe ich nicht mehr. Kühle Hände drücken
mich sanft auf eine Unterlage, decken mich zu und sagen irgendetwas leise zu
mir. Ich schlafe ein, aber der Tunnel und die Wiese kommen nicht mehr zurück.
Es war so schön dort.
Irgendwann
werde ich wieder wach, ich friere nicht mehr so heftig, aber ich kann nicht
hoch. Durch eine Wand schwebt ein Engel in einem weißen Kleid und weißen
Haaren, nein eine Haube trägt der Engel und goldene Locken hat er auch nicht.
„Da bist du ja wieder, nun wird alles gut, habe Geduld.“ Der Engel strich meine
Decke glatt, half mir etwas auf und brachte mir lauwarmen Tee. Es war eine
Krankenschwester und ich offensichtlich im Krankenhaus. Langsam erinnerte ich
mich, es war Pfingsten, ich hatte Fieber und bestimmte träumte ich nur.
Sie
erzählte mir, dass Pfingsten schon vorbei war und ich drei Tage geschlafen
hatte.
Aber nun wird wirklich alles gut. Ich wandte mit Mühe den
Kopf zum Fenster. Der Himmel war wirklich blau und durch die Blätter einer
blühenden Linde leuchtete die Sonne. Angenehmer Duft strömte in das Zimmer,
Vögel zwitscherten in den Zweigen und ich schlief wieder ein. Bis zum nächsten
Morgen. Zum Aufstehen war ich zu schwach, aber in drei Monaten päppelten mich
Ärzte und Schwestern wieder auf. Ich konnte wieder laufen, freute mich an den
wechselnden Jahreszeiten. Auf die Dauer wäre der immer gleiche Tunnel doch
langweilig geworden.
Inzwischen
sind über fünfunddreißig Jahre vergangen, in dem Tunnel war ich nicht mehr.
Dafür erfreue ich mich immer noch an duftenden Blumen, strömenden Regen und
watteweichem Schnee. Ich freue mich über meine Familie und unseren Enkel. Der
samtdunkle Tunnel hat noch Zeit, wenn ich auch manchmal Sorge habe, dass er zu
zeitig auftauchen könnte.
Doch wenn er kommt, dieser Gang durch den Tunnel, brauche
ich wohl keine Angst zu haben.
Wer weiß, wer und was uns am Ende des Tunnels erwarten.
Vielleicht die, welche schon lange vor uns durch den Tunnel gingen.
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Sehr gut,Spitze. Du weißt wer dich und deine Geschichte lobt.LG M.W.
AntwortenLöschenKlingt sehr romantisch!
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